Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
vollkommen inaktiv. Das Ganze ist mir mindestens so unerklärlich wie meine besondere Fähigkeit.«
»Die du zum Glück nicht einsetzen musstest. Starkweather war offenbar vollkommen zufrieden damit, uns die Akte der Familie Shade ohne Schwierigkeiten herauszugeben.«
»Gott sei Dank«, seufzte Tessa erleichtert. »Die Aussicht darauf, mich in ihn verwandeln zu müssen, erschien mir nicht sehr verlockend. Denn er macht einen wirklich unangenehmen, verbitterten Eindruck. Aber falls es sich eines Tages doch als erforderlich herausstellen sollte ...« Tessa fischte einen Gegenstand aus ihrer Tasche und hielt ihn in die Höhe, sodass er im Dämmerlicht des Abteils sanft schimmerte. »Ein Ärmelknopf«, bemerkte sie zufrieden. »Er ist ihm heute Morgen von seinem Gehrock abgefallen und ich habe ihn unbemerkt eingesteckt.«
Jem lächelte. »Sehr schlau, Tessa. Ich wusste, dass es ein kluger Schachzug war, dich mitzunehmen ...«Im nächsten Moment unterbrach ihn ein heftiger Hustenanfall.
Beunruhigt betrachtete Tessa sein Gesicht und selbst Will erwachte aus seinem Zustand stummer Hoffnungslosigkeit und musterte Jem aus zusammengekniffenen Augen. Ein weiterer Hustenanfall schüttelte den jungen Schattenjäger und er presste eine Hand gegen den Mund, doch als er sie fortnahm, war kein Blut daran zu erkennen. Tessa beobachtete, wie Wills Schultern sich entspannten.
»Nur eine trockene Kehle«, versicherte Jem ihnen. Und er wirkte auch nicht krank, sondern lediglich sehr müde. Allerdings betonte die Erschöpfung die feine Eleganz seiner Züge noch zusätzlich. Jem strahlte zwar nicht in solch feurig siedenden Farben wie Will, aber er besaß eine ganz eigene, gedämpfte Schönheit, wie wirbelnde Schneeflocken vor einem silbergrauen Winterhimmel.
»Dein Ring!«, stieß Tessa plötzlich hervor, als sie sich erinnerte, dass sie ihn noch immer trug. Rasch steckte sie den Ärmelknopf wieder ein und streifte dann den Ring der Familie Carstairs von ihrem Finger. »Eigentlich wollte ich ihn dir schon früher zurückgeben«, sagte sie und legte den silbernen Reif in Jems Hand, »aber ich hatte es ganz vergessen ...«
Sanft schloss Jem seine Finger um ihre. Trotz Tessas Gedanken an Schnee und graue Winterhimmel fühlte sich seine Hand überraschend warm an. »Ach, das ist schon in Ordnung«, versicherte er mit gesenkter Stimme. »Mir gefällt der Anblick des Rings an deiner Hand.«
Tessa spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, ertönte die Dampfpfeife und laute Stimmen verkündeten, dass sie King’s Cross Station erreicht hatten. Als der Bahnsteig in Sicht kam, verringerte der Zug seine Geschwindigkeit und kurz darauf drang der Lärm des geschäftigen Bahnhofstreibens an Tessas Ohren, zusammen mit dem fast schmerzhaften Quietschen der Bremsen. Jem sagte irgendetwas zu Will, aber obwohl seine Worte im Dröhnen untergingen, glaubte Tessa, einen warnenden Ton in seiner Stimme zu hören.
Doch Will war bereits auf den Beinen. Er packte den Griff der Abteiltür, schwang sie auf und sprang im nächsten Moment aus dem noch rollenden Zug auf den Bahnsteig.
Wenn er kein Schattenjäger wäre, überlegte Tessa, wäre er bestimmt gestürzt und hätte sich böse verletzt. Doch so landete er mühelos auf den Füßen und bahnte sich einen Weg durch die dichte Menge aus Gepäckträgern, Pendlern und Mitgliedern des Landadels auf dem Bahnsteig, die mit wuchtigen Koffern und nervösen Jagdhunden Richtung Norden reisten, um das Wochenende auf dem eigenen Landsitz zu verbringen. Zuletzt drängte Will durch das Gewimmel von Zeitungsjungen, Taschendieben, Straßenhändlern und allen anderen, die den imposanten Bahnhof bevölkerten.
Auch Jem war aufgesprungen und griff nach der Tür. Doch dann drehte er sich zu Tessa um und der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet ihr, dass ihm bewusst war: Wenn er Will nun nachsetzte, würde sie ihnen nicht folgen können. Jem warf ihr einen weiteren Blick zu, schloss die Tür dann wieder und sank auf die gegenüberliegende Sitzbank, während der Zug schließlich zum Stehen kam.
»Was ist mit Will ...?«, setzte Tessa an.
»Er wird schon zurechtkommen«, versicherte Jem ihr nachdrücklich. »Du weißt ja, wie er ist. Manchmal will er einfach nur allein sein. Und ich bezweifle, dass er Wert darauf legen würde, anwesend zu sein, wenn wir Charlotte und den anderen die Ereignisse des heutigen Tages berichten.« Als Tessa ihn weiterhin unverwandt anschaute, fügte er sanft hinzu:
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