Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
packen und zu schütteln? Oder sie fest in die Arme zu nehmen - so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen? Tessa vermochte es nicht zu sagen. Bei Will konnte man sich nie sicher sein.
Dann schwang die Tür des Seitengangs auf und Jem kehrte ins Abteil zurück, ein feuchtes Tuch in den Händen. Er schaute von Will zu Tessa und hob eine seiner silberhellen Augenbrauen. »Ein Wunder«, kommentierte er, »du hast ihn wahrhaftig zum Reden gebracht.«
»Aber nur, damit er mich anknurren kann«, erwiderte Tessa. »An das Wunder der Speisung der Fünftausend kommt es nicht ganz heran.«
Will hatte erneut den Kopf abgewandt und starrte wieder aus dem Fenster, während Jem und Tessa sich unterhielten.
»Zumindest ist es ein Anfang«, stellte Jem fest und ließ sich neben ihr nieder. »Reich mir mal deine Hände«, forderte er sie auf.
Überrascht streckte Tessa ihm die Hände entgegen - und warf einen bestürzten Blick darauf: Ihre Finger starrten vor Dreck und ihre Nägel waren eingerissen und besaßen dunkle Trauerränder von der Yorkshire-Erde, die sie mit bloßen Händen zusammengeklaubt hatte. Über einem ihrer Knöchel verlief sogar eine blutige Schürfwunde, aber sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich diese zugezogen hatte. Jedenfalls waren das nicht die Hände einer Dame. Tessa musste unwillkürlich an Jessamines perfekt gepflegte, vornehm blasse Hände denken. »Jessie wäre entsetzt«, bemerkte sie wehmütig. »Sie würde meine Hände als Pranken einer Putzfrau bezeichnen.«
»Und was ist daran schlimm, wenn ich mir die Frage gestatten darf?«, erwiderte Jem, während er sanft den Schmutz von Tessas zerkratzten Fingern wischte. »Ich habe gesehen, wie du uns und dieser Klockwerk-Kreatur nachgesetzt bist. Falls Jessamine noch immer nicht weiß, dass Blut und Schmutz jedem Krieger zur Ehre gereichen, wird sie es niemals verstehen.«
Die Kühle des feuchten Tuchs war eine Wohltat für Tessas Hände. Sie schaute zu Jem auf, der sich intensiv seiner Aufgabe widmete, wobei seine gesenkten Wimpern wie ein Saum aus mattem Silber wirkten. »Danke«, sagte Tessa. »Ich bezweifle zwar, dass ich euch überhaupt eine Hilfe war - und nicht eher eine Bürde -, aber trotzdem vielen Dank.«
Jem schenkte ihr ein Lächeln, das so strahlend wirkte wie die Sonne, die hinter dunklen Wolken hervorbrach. »Dafür trainieren wir dich schließlich, oder nicht?«
»Hast du irgendeine Idee, was vorgefallen sein könnte? Warum Wills Familie in einem Haus wohnt, das einst Mortmain gehörte?«, fragte Tessa mit gesenkter Stimme.
Jem warf seinem Freund einen verstohlenen Blick zu, der noch immer mit versteinerter Miene aus dem Fenster starrte. Inzwischen hatte der Zug den Stadtrand von London erreicht und graue Gebäude erhoben sich auf beiden Seiten der Gleise. Der Ausdruck, mit dem Jem Will betrachtete, hatte etwas Erschöpftes, aber auch Liebevolles an sich - es war ein vertrauter Blick und Tessa erkannte, dass sie zwar immer Will für den älteren der beiden Waffenbrüder gehalten hatte, für denjenigen, der sich um den anderen kümmerte, dass das Verhältnis der beiden in Wahrheit aber deutlich komplizierter war.
»Nein, ich habe keine Ahnung«, räumte Jem ein. »Allerdings drängt sich mir der Gedanke auf, dass Mortmain das Spiel, das er treibt, von langer Hand geplant hat. Aus irgendeinem Grund wusste er genau über unsere Ermittlungen Bescheid und auch, wohin sie uns führen würden. Und er hat diese ... diese Begegnung arrangiert, um uns einen möglichst großen Schrecken einzujagen. Damit möchte er erreichen, dass wir nie vergessen, wer hier die Macht besitzt.«
Tessa erschauderte. »Ich verstehe nicht, was er von mir will, Jem«, seufzte sie leise. »Als er mir erzählt hat, er habe mich erschaffen, erschien mir das so, als wolle er damit sagen, dass er meine Existenz mit derselben Leichtigkeit auch wieder rückgängig machen könne.«
Behutsam berührte Jem ihren Arm. »Du kannst nicht rückgängig gemacht werden«, erklärte er mindestens ebenso leise. »Und Mortmain unterschätzt dich. Ich habe gesehen, wie du diesen Ast gegen den Klockwerk-Automaten eingesetzt hast ...«
»Aber das hat nicht gereicht. Wenn mein Engel nicht gewesen wäre ...« Nachdenklich umfasste Tessa den Anhänger an ihrer Kehle. »Der Automat hat ihn berührt und ist dann zurückgeschreckt. Ein weiteres Rätsel, das ich nicht lösen kann. Der Engel hat mich schon zuvor beschützt und nun erneut, aber in anderen Situationen scheint er
Weitere Kostenlose Bücher