Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Verbitterung -, aber ich kann keinen Gedanken isolieren, einzeln erwischen. Es erscheint mir fast wie der Versuch, Wasser festhalten zu wollen.«
»Wie merkwürdig. Hast du etwas Ähnliches schon einmal zuvor erlebt?«
Nachdenklich schüttelte Tessa den Kopf. »Nein und es beunruhigt mich sehr. Denn ich fürchte, Nate wird von mir erwarten, dass ich bestimmte Dinge weiß - aber dieses Wissen fehlt mir. Ich werde ihm nicht die richtigen Antworten auf seine Fragen geben können.«
Will beugte sich vor. An regnerischen Tagen - also in London fast täglich - wellten sich seine normalerweise glatten Haare. Und der Anblick der leicht feuchten Strähnen, die sich an seinen Schläfen zu kräuseln begannen, hatte etwas derart Liebenswertes, Verwundbares an sich, dass es Tessa einen Stich ins Herz versetzte. »Du bist eine gute Schauspielerin und du kennst deinen Bruder«, sagte er. »Ich habe vollstes Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten.«
Verwundert schaute Tessa ihn an. »Wirklich?«
»Und außerdem«, fuhr Will fort, ohne auf ihre Frage einzugehen, »falls irgendetwas Unerwartetes passieren sollte, bin ich ja auch noch da. Selbst wenn du mich nicht sehen solltest, werde ich immer in deiner Nähe sein, Tess. Vergiss das nicht.«
»In Ordnung.« Tessa neigte den Kopf leicht zur Seite. »Will?«
»Ja?«
»Es gab doch noch einen dritten Grund, weshalb du Charlotte nicht wecken und ihr von unserem Plan erzählen wolltest, habe ich recht?«
Will musterte Tessa aus leicht zusammengekniffenen Augen. »Und der wäre?«
»Du hast gezögert, weil wir noch immer nicht wissen, ob es sich bei Jessamines Verhalten nur um einen törichten Flirt oder etwas Tiefgehenderes, Finsteres handelt. Eine ernsthafte Verbindung zu meinem Bruder und Mortmain. Und dir ist bewusst: Sollte sich Letzteres als wahr herausstellen, würde das Charlotte das Herz brechen.«
Ein Muskel zuckte an Wills Unterkiefer. »Und warum sollte mich das interessieren? Wenn sie dumm genug ist, Zuneigung zu Jessamine zu entwickeln ...«
»Tief in deinem Inneren kümmert es dich sehr wohl«, stellte Tessa fest. »Du bist kein herzloser Eisblock, Will. Ich habe dich im Umgang mit Jem erlebt ... Ich habe dein Gesicht gesehen, als du Cecily erblickt hast. Und du hast noch eine weitere Schwester gehabt, nicht wahr?«
Will warf ihr einen scharfen Blick zu. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich mehr als nur eine Schwester gehabt habe ... gehabt hätte?«
»Als Jem meinte, er habe immer angenommen, deine Schwester sei tot, hast du geantwortet: ›Meine Schwester ist tot‹«, erklärte Tessa. »Aber Cecily weilt ganz eindeutig unter den Lebenden - was die Vermutung nahelegt, dass du eine weitere Schwester gehabt haben musst, die tatsächlich gestorben ist.«
Langsam ließ Will den angehaltenen Atem entweichen. »Du bist schlau.«
»Mag sein, aber habe ich nun auch recht oder liege ich falsch mit meiner Annahme?«
Will erschien einen Moment sehr dankbar für die Maske, die seinen Gesichtsausdruck verbarg. »Ella«, sagte er schließlich. »Zwei Jahre älter als ich. Und Cecily, drei Jahre jünger. Meine beiden Schwestern.«
»Und Ella ...?« Obwohl Will rasch den Blick abwandte, hatte Tessa den Schmerz in seinen Augen bemerkt. Das bedeutete also, dass sie tot war. »Was für ein Mensch war Ella?«, fragte Tessa, da sie sich erinnerte, wie dankbar sie gewesen war, als Jem ihr diese Frage im Zusammenhang mit Nate gestellt hatte. »Und Cecily, welche Sorte von Mädchen ist sie?«
»Ella war fürsorglich«, erklärte Will. »Wie eine Mutter. Sie hätte alles für mich getan. Und Cecily war ein verrücktes kleines Huhn. Als ich von zu Hause fortging, war sie gerade mal neun Jahre alt. Ich weiß nicht, ob sie heute noch immer so ist, aber damals hatte sie etwas von ... Cathy in Sturmhöhe. Sie hat sich vor nichts und niemandem gefürchtet, konnte kämpfen wie ein Löwe und fluchen wie die Fischweiber vom Billingsgate Market.« Aus Wills Stimme sprach Belustigung und Bewunderung und ... Liebe.
Nie zuvor hatte Tessa ihn auf diese Weise über jemand anderen reden hören, mit Ausnahme von Jem vielleicht. »Falls ich mir die Frage erlauben darf ...«, setzte sie an.
Will seufzte. »Du wirst sie ja ohnehin stellen, ob ich nun damit einverstanden bin oder nicht.«
»Du hast selbst eine jüngere Schwester. Also was genau hast du Gabriels Schwester angetan, dass er dich derartig hasst?«
Erstaunt setzte Will sich auf. »Ist das dein Ernst?«
»Ja«, bestätigte Tessa.
Weitere Kostenlose Bücher