Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
befreit,
Dass ich schier unbesonnen bin
Und ausgelassen munter.
Indes - ihr Bruder kommt: Ein Mehltau fällt
Auf meine hoffnungsgrüne Welt.
ALFRED LORD TENNYSON,
»MAUD«
[19]
Cyril hatte die Kutsche vor der Zufahrt zum Anwesen im Schatten einer großen Eiche abgestellt. Der Landsitz der Familie Lightwood befand sich in Chiswick, am Rande der Londoner Stadtgrenze: ein imposantes Bauwerk im palladianischen Stil, mit hoch aufragenden Säulen und mehreren Freitreppen. Im Mondlicht schimmerte die gesamte Szenerie perlmuttfarben wie das Innere einer Auster. Das Mauerwerk des Hauses wirkte fast silbern, während das schmiedeeiserne Tor in der Mauer, die den Landsitz umgab, dunkel schillerte wie schwarzes Öl. Im Haus brannte kein einziges Licht - das gesamte Anwesen lag dunkel und totenstill da, bis hinab zum Ufer des alten Themsearms, unbeleuchtet und verlassen. Tessa fragte sich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen.
Doch als Will aus der Kutsche kletterte und ihr beim Aussteigen half, drehte er den Kopf und sein fein geschnittener Mund bekam einen harten Zug. »Riechst du das?«, fragte er. »Hier stinkt’s förmlich nach Dämonen und Hexerei.«
Tessa verzog das Gesicht - sie konnte nichts Ungewöhnliches wahrnehmen. Genau genommen erschien ihr die Luft hier draußen, so weit vom Stadtzentrum entfernt, deutlich sauberer als in der Umgebung des Instituts. Außer feuchtem Laub und nasser Erde konnte sie absolut nichts riechen. Verwundert schaute sie Will an, dessen Gesicht dem Mond zugewandt war, und fragte sich, welche Waffen er wohl unter dem eng geschneiderten Frack am Körper tragen mochte. Seine weißen Handschuhe und das gestärkte Hemd schimmerten hell im Mondschein und mit seiner Maske hätte er einer Illustration in einem billigen Groschenroman entsprungen sein können: der attraktive Wegelagerer. Tessa biss sich auf die Lippe. »Bist du dir auch ganz sicher? Das Haus sieht so verlassen aus. Als wäre niemand da. Haben wir uns vielleicht geirrt?«
Will schüttelte den Kopf. »Nein, hier ist ein mächtiger Dämonenzauber am Werk ... etwas, das viel stärker ist als Zauberglanz. Ein regelrechter Schutzschild. Irgendjemand legt großen Wert darauf, dass niemand erfährt, was hier heute Nacht vor sich geht.« Nachdenklich warf er einen Blick auf die Einladung in Tessas Hand, zuckte dann die Achseln und marschierte zum Tor. Und eine Sekunde später hatte er auch schon die Torglocke betätigt.
Das laute Bimmeln ließ Tessas ohnehin angespannte Nerven nur noch stärker zittern. Sie zuckte zusammen und funkelte Will aufgebracht an.
Doch Will grinste nur. »Caelum denique, mein Engel«, raunte er und verschmolz in genau dem Augenblick mit den Schatten, als das Tor vor Tessa aufschwang.
Einen Sekundenbruchteil später tauchte eine Gestalt mit einer Kapuze auf. Im ersten Moment dachte Tessa an die Brüder der Stille, doch deren Roben besaßen die Farbe von Pergament, während der Schemen vor ihr in ein Gewand gehüllt war, das wie schwarzer Rauch waberte. Wortlos streckte Tessa ihm die Einladung entgegen.
Die Hand, die ihr die Karte abnahm, steckte in einem dunklen Handschuh. Stumm betrachtete die Gestalt, deren Gesicht in den Schatten der Kapuze verborgen lag, das bedruckte Papier.
Das Warten ließ Tessa unruhig werden; sie konnte einfach nichts dagegen tun. Unter normalen Umständen galt es für eine junge Dame als höchst unschicklich, ja fast schon skandalös, ohne Begleitung einen Ball zu besuchen. Doch dies waren keine normalen Umstände.
Endlich drang eine Stimme unter der Kapuze hervor, eine kratzige Stimme, wie Haut, die über eine raue, rissige Oberfläche schabte: »Willkommen, Miss Lovelace.«
Tessa stellten sich die Nackenhaare auf und sie war froh, dass sie nicht unter die Kapuze schauen konnte. Die Gestalt reichte ihr die Einladung zurück, trat einen Schritt beiseite und bedeutete ihr einzutreten. Mit einem unbehaglichen Gefühl kam Tessa der Aufforderung nach; sie musste sich zwingen, nicht über die Schulter zu schauen und zu überprüfen, ob Will ebenfalls folgte.
Sie wurde über einen schmalen Pfad am Haus vorbeigeführt. Die Gartenflächen, die das gesamte Gebäude umgaben und sich bis zum Fluss erstreckten, schimmerten silbergrün im Mondschein. Nicht weit entfernt lag ein kreisrunder Zierteich mit einer weißen Marmorbank davor und niedrigen, sorgfältig gestutzten Hecken, hinter denen weitere Pfade verliefen. Der Weg, dem Tessa folgte, endete vor einer hohen,
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