Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Instituts natürlich längst schliefen.
Durch die nur schwach beleuchteten Flure eilte sie zuerst zu Jems Zimmer. Als sie auf ihr Klopfen keine Antwort erhielt, kehrte sie um und suchte einige seiner Lieblingsorte auf, doch Jem war weder im Musikzimmer noch in der Bibliothek zu finden. Schließlich gab sie bekümmert auf und ging auf ihr eigenes Zimmer. Nachdem sie aus ihrem Kleid geschlüpft war und es ausgebürstet und aufgehängt hatte, streifte sie ihr Nachthemd über, kletterte ins Bett und starrte an die Decke. Sie hob sogar Wills Exemplar von Beckfords Vathek vom Boden auf, aber zum ersten Mal war das Gedicht, das er für sie auf der ersten Seite notiert hatte, nicht in der Lage, ihr ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern, und es gelang ihr einfach nicht, sich auf die Erzählung zu konzentrieren.
Dabei war sie über ihren Kummer selbst verwundert. Schließlich hatte Jem sich über Wills Verhalten aufgeregt, nicht über sie. Und dennoch war es das erste Mal, dass er in ihrer Gegenwart die Beherrschung verloren hatte, überlegte sie - das erste Mal, dass er ihr gegenüber kurz angebunden gewesen war, nicht mit Freundlichkeit auf ihre Worte reagiert und nicht zuerst an sie statt an sich selbst gedacht hatte ...
Auf einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie Jems Güte die ganze Zeit als selbstverständlich hingenommen hatte, und sie errötete schamvoll, während sie in das Licht der flackernden Kerze starrte. Sie hatte sein freundliches Wesen immer für so natürlich und angeboren gehalten, dass sie sich nie gefragt hatte, ob es ihn überhaupt Mühe kostete - Mühe, ständig zwischen Will und der Welt zu stehen und beide voreinander zu schützen. Oder den Verlust seiner Familie mit Gleichmut zu ertragen. Oder selbst im Angesicht des eigenen nahenden Todes stets ruhig und heiter zu bleiben.
Plötzlich zerriss ein markerschütterndes Quietschen die Stille - so als ob irgendetwas mit Macht auseinandergerissen wurde. Tessa setzte sich ruckartig auf. Was war das? Das Geräusch schien von der anderen Seite ihrer Tür zu kommen, aus dem Gang ...
Jem?
Mit einem Satz war Tessa auf den Beinen, schnappte sich ihren Morgenmantel vom Türhaken, streifte ihn hastig über und stürmte hinaus in den Flur.
Sie hatte sich nicht geirrt: Das Geräusch kam tatsächlich aus Jems Zimmer. Unwillkürlich musste sie an jenen ersten Abend im Institut zurückdenken, an dem sie ihn kennengelernt hatte, und an seine liebliche Geigenmusik, die wie Wasser durch die Tür geperlt war. Doch das Geräusch, das nun aus seinem Zimmer drang, hatte nichts mit seinem üblichen Violinspiel gemein. Zwar konnte Tessa hören, wie der Bogen über die Saiten fuhr, aber es klang eher wie ein Kreischen, wie ein Mensch, der vor Schmerz aufschrie. Zögernd verharrte Tessa vor Jems Zimmer - sie sehnte sich danach, sofort zu ihm zu eilen, und fürchtete sich gleichzeitig davor. Schließlich fasste sie sich ein Herz, öffnete die Tür einen Spalt, schlüpfte hindurch und drückte sie rasch hinter sich ins Schloss.
»Jem«, wisperte sie.
Die Elbenlichtkerzen an den Wänden flackerten nur schwach. Jem saß in Hemd und Hose auf der Truhe am Fuß seines Betts; seine silbernen Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Er hatte sich seine Geige an die Schulter gedrückt, sägte mit dem Bogen brutal über die Saiten und entlockte ihnen schreckliche Töne. Es klang, als würde das Instrument kreischen.
Während Tessa betroffen zusah, riss eine der Saiten mit einem schrillen Jaulen. »Jem!«, rief Tessa erneut, und als er noch immer nicht aufschaute, marschierte sie zu ihm und nahm ihm den Bogen entschlossen aus der Hand. »Jem, hör auf! Deine Geige ... deine wundervolle Geige ... du machst sie noch kaputt.«
In diesem Moment hob er den Kopf und sah Tessa an. Seine Pupillen waren riesengroß, die silberfarbene Iris bildete nur einen schmalen Ring um die schwarze Mitte. Sein Atem ging schwer, sein Hemdkragen stand weit auf und Schweißperlen glänzten auf den Schlüsselbeinen. Seine Wangen waren fiebrig gerötet. »Welche Rolle spielt das schon?«, stieß er so leise hervor, dass es fast wie ein Zischen klang. »Welche Rolle spielt es? Ich werde sterben. Wahrscheinlich werde ich nicht mal das Ende dieses Jahrzehnts erleben. Wen kümmert es da noch, ob die Geige vor mir das Zeitliche segnet?«
Tessa war entsetzt. Auf diese Weise hatte er noch nie über seine Krankheit gesprochen, noch nicht ein einziges Mal.
Jem stand auf und wandte sich von ihr ab, in Richtung
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