Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
denen die meisten mit kriminellen Methoden arbeiten. Das Leben eines Forschers ist mit Gefahren gespickt und man ist gut beraten, sich zur Wehr setzen zu können.« Er griff nach einer Armbrust. »Dieses Stück hier verfügt über eine Trommel zum Verschießen mehrerer Pfeile. Zwanzig Stück, um genau zu sein. Sie werden mittels Gasdruck abgeschossen und sind absolut tödlich.« Mit geschickten Bewegungen prüfte er Spannkraft und Zielgenauigkeit, ehe er das Instrument zurück an seinen Platz hängte. »Letztendlich hoffe ich immer, diese Geräte nie einsetzen zu müssen, aber manchmal führt eben kein Weg daran vorbei.«
»Und das hier?« Oskar deutete auf einen kleinen grauen Kasten, an dem ein Trichter, ähnlich wie bei einem Grammophon, befestigt war.
»Das ist eine meiner neuesten Erfindungen«, sagte der Forscher. »Ich nenne sie Linguaphon. Ein Gerät, welches das leidige Sprachproblem auf meinen Reisen lösen soll. Es ist noch nicht ganz ausgereift, aber ich habe vor, es bei der bevorstehenden Reise auf Herz und Nieren zu testen. Jetzt komm.«
Humboldt führte ihn nach hinten, drückte einen Knopf und setzte damit eine seltsam kalt leuchtende Lampe in Betrieb. Dann klopfte er auf einen Stuhl, der am Kopfende des riesigen Schreibtischs stand, und zog sich selbst auch einen Stuhl heran. »Zuerst mal möchte ich dir unsere Route zeigen.« Er öffnete eine Schublade, holte eine Karte hervor und breitete sie aus. »Unsere Reise wird lang und beschwerlich«, sagte er und fuhr mit dem Finger über die Abbildung. »Quer durch den Atlantik und an Feuerland vorbei. Schon mal davon gehört?«
»Aus Seefahrergeschichten. Es ist der Südzipfel von Südamerika, nicht wahr?«
»Ich sehe, du kennst dich aus. Die Einheimischen nennen es Tierra del Fuego. Eine wilde und unerforschte Gegend.«
»Wo starten wir?«
»Hier ist Berlin«, sagte der Forscher und tippte mit dem Finger auf die Karte. »Unser Schiff ist die Sakkarah der DDG Kosmos. Das Dampfschiff fährt von Hamburg über Le Havre, Montevideo und Buenos Aires bis runter an die Südspitze von Feuerland, durch die Magellanstraße und dann wieder hinauf bis an die chilenisch-peruanische Grenze. Auf dem Weg nach Callao lassen wir uns in Camana absetzen, einer Stadt in der Region Arequipa. Dort mieten wir uns ein paar Maultiere und begeben uns bis zu diesem Punkt.« Sein Finger kam auf der Karte zum Stillstand. Eine Markierung war dort eingezeichnet, ein paar Wörter und eine lange Zahl.
»Canon del Colca«, las Oskar. »Dreitausend Meter.«
»Die tiefste Schlucht der Erde«, sagte Humboldt. »Zumindest, wenn man den Landvermessern trauen darf. Der Canon ist das Ziel unserer Reise.«
»Peru«, sagte Oskar. »Was wollen Sie denn dort?«
»Es gibt eine Legende in dieser Gegend«, sagte Humboldt und wandte sich seinem Arbeitstisch zu. Er öffnete eine Schublade und fing an, darin herumzuwühlen. »Alte Schriften berichten von den sogenannten Regenfressern. Es heißt, sie seien mächtige Zauberwesen, denen es gelungen sei, die Fesseln der Schwerkraft zu zerschneiden und wie Vögel den Himmel zu beherrschen.«
»Sie meinen, sie können fliegen? Das ist doch Unsinn, oder?«
»Die Legende besagt, sie würden die Regenwolken durchkreuzen und dem Land darunter immerwährende Dürre bescheren. Sie seien so gut wie nie zu sehen, weil sie oberhalb der Wolken lebten. Es heißt, nur Eingeweihte könnten den geheimen Weg zu ihrer Stadt finden. Ein Weg, der von mächtigen Wächtern bewacht werde. Na, klingt das nicht abenteuerlich genug?«
»Und so was glauben Sie?«
Humboldt lächelte. »Du bist ein Skeptiker, das gefällt mir. Jemand, der nicht gleich alles für bare Münze nimmt, sondern sich ein eigenes Bild machen will. Was die Regenfresser betrifft: Viele Legenden haben irgendwo einen wahren Kern.« Der Forscher zuckte mit den Schultern. »Wir werden es allerdings kaum herausfinden, wenn wir uns nicht die Mühe machen, selbst nachzuschauen, nicht wahr?«
Oskar war nicht überzeugt. »Das ist ganz bestimmt nur ein Märchen. Solche Geschichten gibt es zuhauf. Können Sie es sich denn leisten, jeder Legende nachzugehen?«
»Natürlich nicht.« Auf Humboldts Gesicht erschien ein verschmitzter Ausdruck. »Es gibt da allerdings eine Sache, die du dir ansehen solltest. Warte mal, ich zeige sie dir.« Er zog eine Schublade auf und wollte gerade hineingreifen, als Oskar hochschrak. Er hatte eine Bewegung im hinteren Teil des Laboratoriums bemerkt. Es war nur ein Schatten
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