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Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Titel: Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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erlaubte. Und Gnade demjenigen, der nicht rechtzeitig da war. Max hatte schon erlebt, dass Leute, die eine wirklich gute Entschuldigung hatten, gefeuert wurden, nur weil sie drei Minuten zu spät kamen. Max hatte keine Entschuldigung außer der, dass seine Frau mit einer Grippe das Bett hütete und er seine Tochter noch zum Klavierunterricht hatte bringen müssen. Gewiss, er hätte sich noch schnell etwas ausdenken können, aber Vanderbilt roch es, wenn jemand ihm Lügen auftischte. Seine einzige Chance bestand darin, noch vor Schließen der Türen in diesen Saal zu gelangen.
    Wie ein Wahnsinniger fuhr er auf den Abstellplatz vor dem Verlagsgebäude, bremste, klemmte seine Aktentasche unter den Arm, sprang aus der Kutsche, schleuderte dem Wachmann die Zügel in die Hand und raste die Treppenstufen empor. Die Glocken der nahe gelegenen Saint Thomas Church schlugen bereits. Seine Ledersohlen klackerten über den Marmorfußboden, während er mit weiten Schritten die Eingangshalle durchquerte, um dann die Treppen zum ersten Stock emporzuhasten. Als er den Gang zum Westflügel erreichte, sah er mit Schrecken, dass Winkelman sich bereits anschickte, die Türen zu schließen.
    Aloisius Winkelman war Vanderbilts persönlicher Hausdiener, ein Relikt aus den Gründerjahren. Er sah aus, als habe er sein ganzes Leben in staubigen Archiven und leeren Korridoren verbracht. Ein Mann, so grau und schrumpelig, dass man glauben konnte, eine in Formaldehyd konservierte Leiche vor sich zu haben.
    »Halt!«, brüllte Max, doch der Hausdiener fuhr völlig ungerührt mit der Schließung der Tür fort. Das Dröhnen, mit dem der erste Flügel sich schloss, hallte durch den Korridor. Entweder war Winkelman taub oder sadistisch. Vermutlich beides. Max bemerkte, wie ein schales Lächeln seinen Mund umspielte, als er sich anschickte, auch noch den zweiten Flügel zu schließen.
    Max mobilisierte seine letzten Reserven und schoss halb laufend, halb schlitternd durch den Spalt, der rasch immer schmaler wurde. Dann war er durch. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Max versuchte zu stoppen, geriet jedoch ins Rutschen und krachte gegen den Kartenständer. Einige der mannshohen Kartenrollen fielen heraus und landeten scheppernd auf dem Boden. Max beeilte sich, sie wieder einzuräumen, sortierte sie, so gut es ging, und drehte sich dann um. Im Saal war es totenstill. Kein Scherz, kein Kommentar, nur anklagendes Schweigen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Sechzehn Redakteure, die meisten von ihnen in der Vorstandsetage des Global Explorer, beäugten ihn misstrauisch durch ihre vernickelten Brillen. Fast alle von ihnen waren älter als Max und trugen ihre Standesabzeichen – dunkle Anzüge, gezwirbelte Barte und grau melierte Haare – mit großer Würde. Mit den kirschholzgetäfelten Wänden und marmornen Büsten im Hintergrund sahen die Herren aus, als würden sie für ein Gemälde posieren.
    Vom Turm der Kirche drang der letzte Glockenschlag herüber. Alfons T. Vanderbilt, der am Kopfende des langen Tisches saß, hob seinen Hammer und klopfte dreimal auf die Gummiablage. Max beeilte sich, seinen Platz einzunehmen. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihn die Anstrengung mitgenommen hatte. Kurzatmig und mit wackeligen Knien ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. Mit fahrigen Bewegungen strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und prüfte den Sitz seiner Krawatte.
    »Meine sehr verehrten Vorstandsmitglieder, liebe Redakteure.« Vanderbilts Stimme war voll und wohltönend. »Ich begrüße Sie zur ersten außerordentlichen Sitzung in diesem Jahr.« Er sandte einen kurzen, aber Ehrfurcht gebietenden Blick in die Runde. »Mit Vermerk des heutigen Datums, des 18. April 1893, möchte ich die Vollzähligkeit des Redaktionsstabes festhalten. Das Komitee ist hiermit abstimmungsberechtigt.«
    Der Stift des Protokollführers kritzelte laut vernehmbar über das Papier des Sitzungsbuchs. Während Max sich noch fragte, worüber denn abgestimmt werden sollte, wuchtete sich Alfons T. Vanderbilt aus seinem Sessel und ging zur Kartenwand hinüber. Jedes Mal, wenn Max seinen Chef sah, schien dieser noch ein paar Kilo zugenommen zu haben. Sein Leib glich mittlerweile einem mit Gänsedaunen ausgestopften Kopfkissen, auf dem ein kleiner Kürbis thronte. Die weißen Haare waren dünn und kurz geschnitten, sodass die gerötete Kopfhaut durchschimmerte. Von hinten betrachtet sah der Firmenchef aus wie ein riesenhaftes Baby, das man in einen Anzug gestopft hatte.

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