Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
Kreatur auf sie zukam. Die hundert Meter verkürzten sich auf sechzig, dann auf vierzig und auf zwanzig. Turmhoch ragte das rauchende Monstrum vor ihnen auf. Es war abzusehen, dass sie von einem dieser pferdedroschkengroßen Füße zertrampelt werden würden. Oskar ergriff Océannes Hand und murmelte ein kurzes Gebet. Dann blieb der Roboter stehen. Oskar konnte seinen brausenden Atem hören, als er sich zu ihnen herunterbeugte und seine todbringende Pranke ausstreckte. Zuerst erwischte es Rimbault. Der kleine Mann stand der Kreatur am nächsten. Panisch mit den Armen rudernd, versuchte er den stählernen Fingern zu entgehen, doch der mechanische Mann schien seine Bewegungen vorauszuahnen und packte ihn. Oskar meinte, ein Knacken zu hören, aber vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet. Was er jedoch mit Sicherheit spürte, war das Reißen des Luftschlauches. Sprudelnd und gurgelnd entwichen die Blasen. Oskar spürte einen kalten Luftzug in seiner Lunge, doch ein spezielles Ventilsystem verhinderte, dass Wasser in ihre Atemschläuche drang. Immer höher wurde der Konstrukteur gehoben. Plötzlich öffnete der gewaltige Kopf seinen Kiefer und die mächtige Pranke stopfte den Körper des Franzosen in das zahnlose Maul. Namenloses Entsetzen befiel Oskar. Der mechanische Riese blickte zu ihnen herab und streckte seine Hand nach ihm aus. Humboldt versuchte noch, sich dazwischenzudrängen, wurde aber unbarmherzig beiseitegefegt. Stählerne Finger umklammerten Oskars Brust, dann wurde er hochgehoben. Sein Atemschlauch riss. Schäumend und gurgelnd schoss das Wasser in seinen Helm und raubte ihm die Sicht. Geistesgegenwärtig hielt Oskar die Luft an. Der mechanische Mann hob ihn hoch, öffnete sein gewaltiges Maul und verschlang ihn.
Als die stählernen Finger ihn losließen, rutschte er eine Metallröhre hinunter. Zehn, fünfzehn Sekunden lang wusste er weder, wo oben noch unten war, dann trafen seine Füße auf eine gummiartige Membran. Sie war weich und wabbelig und saugte ihn förmlich ein. Mit einem schmatzenden Geräusch landete er in einem hell erleuchteten Raum.
Nur wenige Meter von ihm entfernt hockte Rimbault auf dem Boden. Der kleine Mann hatte sich von seinem Helm befreit und war augenscheinlich bei bester Gesundheit. Oskar ging die Luft aus. Mit hektischen Bewegungen nestelte er an den Verschlüssen herum, sah sich aber außerstande, den Helm von seinem Kopf zu ziehen. Rimbault war sofort bei ihm. Oskar spürte, wie die Verschlüsse aufgingen, dann wurde der Helm gedreht und von seinem Kopf gelöst. Das Wasser platschte zu Boden und floss in einer schmalen Öffnung im Boden ab. Oskar füllte seine Lungen mit erlösendem Sauerstoff.
In diesem Moment kam Humboldt durch die Decke. Sein schwerer Körper segelte durch die Luft, wurde aber von der weichen Gummimembran aufgefangen, aus der der Raum bestand. Kaum hatte er sich zur Seite gerollt, als auch schon Océanne eintraf. Auch sie war unverletzt. Wie ein gestrandeter Fisch plumpste sie von oben herab und fiel auf den Boden. Fluchend und zappelnd richteten sich die beiden auf. Rimbault half ihnen beim Abnehmen der Helme.
Oskar fiel ein Stein vom Herzen. Sie war am Leben.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Schiffsbaumeister. »Habt ihr alles gut überstanden?«
»Gut überstanden?«, hustete Humboldt. Er schien eine ganze Ladung Wasser geschluckt zu haben. »Wie können Sie so etwas fragen? Was in drei Teufels Namen ist das hier für ein Raum? Und was ist das für eine seltsame Kreatur?«
»Scheint sich um eine Art Gummizelle im Bauch des Wesens zu handeln«, sagte Rimbault. »Sehen Sie. Dort drüben befindet sich ein Sichtfenster. Vielleicht können wir von dort aus erkennen, was mit uns geschehen ist.«
Grunzend richtete Humboldt sich auf. Das Gummi knarrte, als er sich aus dem Taucheranzug schälte. Oskar war zu erschlagen, um es ihm gleichzutun. Für den Moment genügte es ihm vollkommen, am Leben zu sein und die wohltuende Luft einzuatmen. Sie hatte einen unangenehmen Beigeschmack von Maschinenöl, aber es war Luft. Wunderbare, Leben spendende Luft. Weitaus besser als alles, was er die letzte halbe Stunde zu atmen bekommen hatte. Am Wanken des Raumes spürte er, dass der Koloss wieder zur Calypso zurückging. Oskar hörte das Klirren der Ankerkette, dann ging es weiter, schaukelnd und schwankend, immer weiter ihrem unbekannten Ziel entgegen.
»Komm her, Oskar, das musst du dir ansehen!« Humboldt streckte die Hand aus und zog ihn auf die
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