Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
Füße.
Oskar fühlte sich unfähig, auch nur einen einzigen Schritt zu tun, aber irgendwie schaffte er es trotzdem.
»Alles klar, mein Junge?« Humboldt blickte ihn besorgt an.
»Geht schon wieder«, murmelte Oskar. »War ein bisschen viel in letzter Zeit.«
»Dieser Anblick wird dich für einiges entschädigen«, sagte der Forscher. In seinen Augen war ein seltsames Glitzern zu sehen. »Komm her. Ich verspreche dir, das ist das Unglaublichste, was du jemals gesehen hast!«
37
Charlotte blickte fassungslos durch die Bullaugen auf die nächtliche Unterwasserszenerie. Das Licht ging von drei kuppelartigen Gebäuden aus, die wie Zwiebeltürme in die Höhe ragten. Ein filigranes Netzwerk aus Streben und Bögen überzog die Außenhülle und unterteilte sie in Hunderte von kleinen Facetten, die allesamt leuchteten und funkelten.
»Du meine Güte«, stieß Eliza hervor. »Was ist denn das?«
»Es ist ein Kristallpalast«, murmelte Charlotte.
»Ein was …?«
»Erinnerst du dich nicht? Das gläserne Bauwerk, das anlässlich der ersten Weltausstellung 1851 in London errichtet wurde. Schau dir nur die vielen Türme und Erker an. Wie bei einem Märchenschloss. Meinst du, da drinnen wohnt jemand?«
»Vermutlich«, erwiderte Eliza. »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, wer das sein sollte. Nun ja«, sie seufzte, »wir werden es vermutlich bald genug erfahren. Ich hoffe nur, der Herr des Hauses hat nichts gegen ungeladene Gäste.«
»Was wohl mit unseren Freunden geschehen ist?« Charlotte blickte zu dem kuppelförmigen Palast hinüber. »Ob sie es wohl auch geschafft haben?«
Eliza schloss für einen Moment die Augen, dann sagte sie: »Schwer zu sagen. Ich fühle, dass sie am Leben sind. Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben.«
Charlotte nickte. Sie hatte Elizas Fähigkeiten über die Jahre zu respektieren gelernt, auch wenn sie immer noch nicht verstand, wie sie funktionierten. Eliza besitzt so etwas wie echte Magie, hatte Humboldt ihr erklärt und so langsam fing sie selbst an, daran zu glauben.
Der stählerne Koloss ließ die Ankerkette los und stapfte die letzten hundert Meter auf ein Nebengebäude des Kristallpalastes zu. Sein Ziel war eine massive Eisenwand, die so gewaltig war, dass er davor zu einem Zwerg zusammenschrumpfte .
»Was tut er denn da?«, flüsterte Charlotte.
»Sieht aus, als würde er eine Art Öffnungsmechanismus betätigen«, sagte Clement, der neben Charlotte zum Fenster hinausstarrte.
In der Wand erschien ein leuchtender Riss, der mit jeder Sekunde größer wurde. Goldenes Licht flutete über den Meeresgrund.
»Es ist ein Tor«, flüsterte die Haushälterin. »Ich glaube, er will uns ins Innere schleppen.«
Eliza hatte recht. Als sich die Pforten weit genug geöffnet hatten, kam der Koloss zur Calypso zurück, packte die Ankerkette und schleifte das Schiff die letzten Meter ins Innere der Halle.
Der Saal, der sich hinter dem Tor anschloss, stand komplett unter Wasser. Der Boden bestand aus nahtlos zusammengefügten Metallplatten, in deren Mitte Schienen angebracht waren, auf denen eine Art Schlitten stand. Die Ränder waren u-förmig hochgebogen und dienten offenbar dazu, besonders große und schwere Gegenstände zu transportieren. Mit unglaublicher Präzision manövrierte der mechanische Mann das tonnenschwere Schiff auf den Schlitten und verzurrte es anschließend mit der Ankerkette.
»Was soll das?«, fragte Charlotte, die sich auf all das keinen Reim machen konnte. »Was hat dieser Koloss mit uns vor?«
»Ich glaube, er will das Wasser aus der Halle pumpen«, erwiderte Clement. »Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis wir erfahren, wer uns hierher verschleppt hat.«
Der Maschinist hatte recht. Der Wasserstand sank. Man konnte sogar schon die Deckenlichter erkennen, die wie künstliche Sonnen unter der Kuppel leuchteten. Im Inneren des Sonarraums wurde es immer heller. Charlotte kniff die Augen zusammen. Sie hatte so lange im Halbdunkel verbracht, dass ihre Augen eine Weile brauchten, um sich an das Licht zu gewöhnen.
Als sie wieder hinausblickte, war das Wasser verschwunden. Vor ihnen erstreckte sich eine schier endlose Fläche aus dicht gefugten Metallplatten, die vor Feuchtigkeit glänzten. Bis auf ein paar Pfützen war nichts von den Abertausend Kubikmetern Meerwasser übrig geblieben.
»Sieht aus, als wäre die Halle mit Luft gefüllt«, sagte Eliza. »Meint ihr, es ist sicher, wenn wir rausgehen?«
»Nur die Ruhe«, sagte Clement. »Wie es aussieht,
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