Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
die Hand und ließ sich zurückfallen. Auf seiner Stirn zeichneten sich tiefe Denkerfalten ab. Vermutlich sinnierte er darüber, ob das eben eine Beleidigung gewesen war oder nicht. Doch selbst wenn er sich angegriffen fühlte, so schwieg er. Er schien ohnehin zu der wortkargen Sorte zu gehören. Was blieb ihm auch anderes übrig, an der Seite dieser Frau?
Nach dem Polieren seines Zylinders widmete er sich nun gewissenhaft dem Aufziehen seiner Taschenuhr.
»Hast du denn meinen Brief nicht erhalten, Engel?«, flötete Frau Riethmüller. »Du weißt schon, den, den ich dir im Dezember geschickt habe.«
»Selbstverständlich habe ich ihn erhalten, Mutter.« Sie sprach das Wort mit einem spitzen Unterton aus.
»Und warum hast du nicht geantwortet?« Die dunklen Wimpern klimperten vorwurfsvoll.
»Warum sollte ich? Du hast mir ja keine Frage gestellt. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mich aufgefordert, meine Zelte hier abzubrechen und nach Bremen in euer neues Haus zu ziehen. Ich möchte aber nicht nach Bremen.«
»Das ist doch …« Frau Riethmüller war nun doch um ihre Fassung bemüht. »Du bist meine Tochter. Es ist selbstverständlich, dass du bei uns wohnst. Habe ich recht, Herr Gendarm?«
Der Polizeibeamte räusperte sich verlegen.
Ehe er antworten konnte, fragte Charlotte: »Was macht der Gendarm hier, Mutter? Du hast doch wohl nicht etwa vor, mich mit Gewalt von hier wegzubringen? Ich bin fast siebzehn Jahre alt.«
»Du sagst es: fast. Und solange du nicht einundzwanzig bist, wirst du tun, was ich dir sage. Komm jetzt, gehen wir. Wir haben ohnehin schon viel zu viel Zeit in diesem Haus verbracht.« Sie schickte sich an zu gehen, doch Charlotte blieb sitzen. Stattdessen griff sie nach der schwarzen Mappe und holte einige Dokumente daraus hervor.
Frau Riethmüller ließ sich in das Polster zurücksinken. Ihre Augen wurden hart wie Kiesel. »Was ist das?«
»Das, liebste Mutter, sind Unterlagen, die erhebliche Zweifel an meiner Herkunft aufkommen lassen.«
In der Stille, die nun folgte, hätte man das Fallen einer Stecknadel hören können. Oskar beobachtete, wie aus dem Gesicht der Frau schlagartig alle Farbe wich.
»Was sagst du da?«
»Ich bin in Großmutters Tagebuch auf einen Eintrag gestoßen, der mich sehr beschäftigt hat«, fuhr Charlotte fort. »Katharina schrieb, dass du im Winter 72 sehr krank warst. Eine Unterleibsentzündung, wenn ich richtig gelesen habe.«
»Großmutters Tagebuch?« Marias Stimme bekam einen hysterischen Klang. »Wieso weiß ich nichts davon?« Sie wandte sich mit vorwurfsvollem Blick an Humboldt. »Wieso hast du mir nie gesagt, dass unsere Mutter Tagebuch geschrieben hat?«
Der Forscher zuckte mit den Schultern. »Ich bewahre das alte Zeug oben in einer Kiste auf. Ich habe mich nie groß damit beschäftigt. Es erschien mir nicht wichtig. Du weißt ja, dass ich in Familiensachen etwas nachlässig bin.«
»Allerdings«, schnaubte Maria.
»Ich habe mich daraufhin in das zuständige Krankenhaus begeben und Einsicht in die Unterlagen gefordert«, fuhr Charlotte mit bebender Stimme fort. »Obwohl ich ja angeblich deine leibliche Tochter bin, war es nicht leicht, an die Informationen zu kommen. Doch ich kann ausgesprochen hartnäckig sein, wenn ich etwas will. Als ich einen Rechtsanwalt auf die Sache ansetzte, gab die Verwaltung endlich nach. Heute Mittag war es dann so weit. Die Dokumente lagen beglaubigt und zur Einsicht bereit. Hier sind die Abschriften. Was dort zu lesen steht, ist ausgesprochen interessant. Lies selbst.« Sie schob die Papiere über den Tisch. Maria Riethmüller würdigte die Dokumente keines Blickes. Kerzengerade saß sie auf ihrem Polster und starrte ihre Tochter an. Herr Igel und der Gendarm interessierten sich umso mehr dafür. Charlotte lehnte sich zurück. »Wenn du möchtest, kann ich für alle Anwesenden eine kurze Zusammenfassung präsentieren. Es lässt sich auf einen Satz reduzieren. Ich bin womöglich gar nicht deine Tochter.«
»Was soll das heißen, du bist nicht Marias Tochter?« Nun sah auch Humboldt besorgt aus. »Würdest du mir bitte erklären, was du damit meinst?«
Charlottes Wangen waren gerötet. Oskar kannte sie gut genug, um zu erkennen, dass sie kurz davor stand zu explodieren. Wie ein Dampfkessel, wenn der Druck zu hoch wurde.
»Das ärztliche Gutachten besagt, dass Maria unfähig ist, Kinder zu bekommen. Eine Unterleibsentzündung, die zu einer Vernarbung des Eileiters geführt hat. Irreparabel, wie mir der Arzt
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