Chucks Welt
eignet oder ob die Milch noch gut ist – Mom liegt immer richtig. Und irgendwo tief drinnen weiß ich, dass das jetzt auch der Fall ist.
Auf der einen Seite bin ich ziemlich normal. Ich schneide mich nicht und kotze das Essen nicht wieder aus, ich höre auch nicht mit einem Strick um den Hals Marilyn Manson. Andererseits muss ich das Schloss an meinem Schulschrank immer exakt vierzehn Mal schließen, bevor ich weggehen kann, ich suche mich nach Zecken ab, wenn ich auch nur einen Grashalm berührt habe, und außerdem führe ich seit einem Jahr Buch darüber, wie oft ich wichse, verdammt noch mal.
»Ein Kollege in der Schule hat mir jemanden empfohlen, eine Frau, sie soll sehr gut sein«, erklärt Mom. »Geh wenigstens ein Mal hin. Mehr wollen wir doch gar nicht.«
Manchmal male ich mir aus, ich wäre alle meine Zwänge los. Ich müsste in der Schule nicht mehr jeden Tag exakt die gleichen Wege nehmen. Und könnte das Essen in der Cafeteria mit den Händen anfassen. Trotzdem, ich bin einfach nicht so weit, mit irgendwem über diese Sachen zu reden.
»Falls du sie mögen solltest«, fährt Mom fort, »müsstest du nur einmal in der Woche hingehen, für eine Stunde. Eigentlich nur fünfzig Minuten.«
»Langsam, Molly«, wirft Dad ein. »Wir wissen ja noch gar nicht, ob die Versicherung das übernimmt.«
In mir laufen drei Sachen gleichzeitig ab. Zum einen raste ich komplett aus bei der Vorstellung, mit jemandem über meine Mackenreden zu müssen, von denen meine Eltern größtenteils nicht mal was ahnen. Daneben schwingt eine geheime Hoffnung mit: Vielleicht wäre es doch gut, über diese Macken reden zu können. Und drittens könnte ich mich über Dad kaputtlachen, der mehr an die Kosten denkt als an seinen geisteskranken Sohn.
»Ray!« Meine Mom schießt einen eisigen Blick auf Dad ab. Da hält er den Mund und betrachtet seine Füße. Mom wendet sich wieder mir zu.
»Liebling, weißt du noch, als du mir diesen Flickipedia-Eintrag über Zwangsstörungen gezeigt hast und ich dir …«
»Wikipedia.«
»Was?«
»Mom, das heißt Wikipedia. Nicht Flickipedia.«
»Na dann eben Wikipedia. Weißt du noch, wie du mir diesen Artikel gezeigt hast?«
»Ja.« Das hätte ich nie tun dürfen.
»Chuck, ich glaube, das war eine Art Hilferuf.«
Wie bitte? Also echt, Mom!
»Ich habe mich seitdem schlaugemacht und denke, du hast recht. Wahrscheinlich leidest du wirklich an einer Zwangsstörung. Und das ist letztlich auch gut.«
»Was soll daran gut sein, verdammt?«
»Weil wir wissen, was dir fehlt, und weil du behandelt werden kannst.«
»Aber ich will nicht zum Psychiater.«
Jetzt fange ich echt an zu flennen. Verdammter Mist. Das wühlt meine Mutter noch mehr auf, Dad fühlt sich noch unbehaglicher und ich komme mir noch mehr wie ein Weichei vor.
»Chuck, ist schon in Ordnung«, beschwichtigt Dad. »Versuch’s einfach mal. Falls du danach nie mehr hinwillst, ist das kein Problem. Und hinterher machen wir einen Abstecher zu GameStop.«
Scheiße, jetzt läuft mir auch noch die Nase.
»Alle möglichen Leute gehen zum Psychiater«, schiebt er hinterher. »Nach Opas Tod war ich sogar selbst mal bei einem.«
Aha, Dad will mich also mit Videospielen bestechen und mich damit trösten, dass er auch schon in Behandlung war. Super Taktik.
»Okay«, schniefe ich.
»Okay?«, fragt Mom.
»Ja. Krieg ich ein Tempo?«
Dad holt eins von seinen Stofftaschentüchern raus und hält es mir so vor die Nase, dass ich nur noch reinschnäuzen muss. Dann faltet er es wieder zusammen und stopft es in seine Hosentasche.
»Igitt, Dad!«
Wir kichern alle und ich wische mir die Tränen weg. Jetzt ist es offiziell: Chuck Taylor geht zum Irrenarzt.
Beth kommt die Treppe runtergedüst, gerade rechtzeitig für die Nudeln.
»Was redet ihr da gerade?«, fragt sie, mal wieder vollkommen ahnungslos.
E indeutig ein Tag für quietschgelbe Chucks: nervös. In einem Schaukasten am Eingang sind alle Arztpraxen gelistet, die es hier im Gebäude gibt. Mein Blick fällt gleich auf das Schild von meiner Irrenärztin, sie hat nämlich den längsten Namen.
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DR. AHLADITA SRINIVASAN
PSYCHOTHERAPIE FÜR KINDER UND JUGENDLICHE
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Mir ist ein bisschen mulmig zumute. Dad geht direkt hinter mir. Wer weiß, vielleicht hat er Angst, dass ich mich verdrücke.
Dr. Srinivasans Praxis ist im dreizehnten Stock, was einerseits komisch ist, wenn man bedenkt, dass sie den ganzen Tag mit Verrückten zu tun hat, mir aber andererseits nichts ausmacht,
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