Chuzpe: Roman (German Edition)
hatte es im ersten Moment für eine gute Idee gehalten. Sie hatte sich vorgestellt, daß Edek es vielleicht genießen würde, schwimmen zu können, wenn sie Familienausflüge machten. Es war an den Haaren herbeigezogen und absurd. Aus vielen Gründen. Zum Beispiel weil Edek helle Haut hatte und sich schnell einen Sonnenbrand holte. Edek sah sie erwartungsvoll an. »Du hast recht«, sagte sie. »Warum solltest du schwimmen lernen wollen?«
»Gott sei Dank du kannst das einsehen«, sagte Edek. »Für so ein kluges Mädchen, was du bist, Ruthie, sagst du manchmal Sachen, was sind sehr wenig klug.«
»Du behandelst deinen Vater, wie manche Eltern in dieser Stadt ihre Kinder behandeln«, hatte Sonia erst kürzlich zu Ruth gesagt. »Sie wollen jeden Augenblick im Leben ihrer Kinder ausfüllen und planen. Die Kinder werden zum Tanzunterricht, zum Schwimmen und in Skikurse geschickt. Sie haben Flöten-, Posaunen-, Klavier- und Saxophonunterricht. Ein Instrument genügt nicht. Sie lernen Französisch, Italienisch, Spanisch, Japanisch. Zweisprachig ist für ein Kind in Manhattan heutzutage nicht mehr ausreichend. Man muß dreisprachig sein. Man muß einen persönlichen Fitneßtrainer haben und Kampfsport lernen, bevor man in die erste Klasse kommt. Sprachen muß man lernen, bevor man überhaupt sprechen kann, Tanzkurse besuchen, bevor man laufen kann. Man muß tanzen können, essen, schwimmen und Japanisch sprechen, während man mit dem Kindermädchen Spanisch und mit der Mutter Englisch spricht. Und man muß Bewerbungstaktiken beherrschen, um in die Vorschule aufgenommen zu werden.«
»Warum muß man Bewerbungstaktiken beherrschen, um in die Vorschule aufgenommen zu werden?« fragte Ruth.
»Um in die richtige Vorschule zu kommen«, sagte Sonia. »Aber darum geht es jetzt nicht. Es geht um die Frage, warum du alle Leute manipulieren willst.«
»Ich will niemanden manipulieren«, sagte Ruth. Sie fand nicht, daß sie andere Leute manipulieren wollte. Sie wollte nur ihre Firma führen. Und ihren Vater glücklich sehen. Beides.
Am Vortag war Edek nach der Arbeit plötzlich sehr aufgeregt gewesen. »Sieh mal, die Frau da drüben«, hatte er gesagt und auf eine braungebrannte, nicht mehr ganz junge Blondine mit glänzender Haut, großem Busen und Stachelfrisur gedeutet, die den West Broadway entlangging. »Findest du nicht, daß sie aussieht wie Zofia?« hatte Edek gerufen. »Nicht so nett, wie Zofia aussieht, aber sehr ähnlich, wie Zofia aussieht.« Ruth und Edek hatten Zofia und deren Freundin Walentyna vor einem Jahr im Hotel Mimosa in Krakau kennengelernt. Edek war zum erstenmal seit mehr als fünfzig Jahren in Polen gewesen. Zum erstenmal, seit er nach Auschwitz deportiert worden war. Sein Zuhause in Lodz hatte er zum letztenmal als Dreiundzwanzigjähriger gesehen.
Edek hatte nie Interesse daran geäußert, Ruth auf einer ihrer zahlreichen Reisen nach Polen zu begleiten. Warum sie immer wieder hinfuhr, hatte er nicht begreifen können.
Auf ihrer ersten Reise nach Polen hatte Ruth zum erstenmal gesehen, woher ihre Eltern stammten. Sie hatte zum erstenmal die großen Mietshäuser und das kleine Stadtpalais gesehen, die den Eltern ihres Vaters gehört hatten. Sie hatte sich zum erstenmal in dem kleinen Innenhof aufgehalten, in dem ihre Mutter die Hausaufgaben gemacht hatte. In diesem Hof hatte Rooshka davon geträumt, Kinderärztin zu werden. Ruth war immer wieder die Wege gegangen, die ihre Mutter auf dem Schulweg und auf dem Nachhauseweg gegangen war. Sie hatte auf dem Balkon der Wohnung gestanden,in der ihr Vater aufgewachsen war. Auf dem Balkon, von dem aus der Vater ihres Vaters seinen jüngsten Sohn im Auge behalten hatte, um sicherzugehen, daß er seine Jarmulke trug, wenn er aus der Schule kam. Edek hatte Ruth erzählt, daß er seine Jarmulke immer aufgesetzt hatte, bevor er um die Ecke kam und in die Ulica Zakatna einbog. Ruth hatte an dieser Ecke gestanden. Und geweint. Sie hätte am liebsten den Flügel gekauft, der noch immer in der Wohnung stand, die Sofas und die Sessel. Und das Bett. Alles war noch da.
Und vor einem Jahr hatte Edek plötzlich ganz unerwartet zu Ruth gesagt, er wolle mit ihr nach Polen fahren. In Polen war Ruth ihrem Vater nicht von der Seite gewichen. Sie wollte nicht, daß er in Polen eine Sekunde lang allein war. Sie wollte nicht, daß er sich allein vorkam.
Edek und Ruth hatten in Krakau im Speisesaal des Hotels Mimosa, in dem sie wohnten, gefrühstückt, als Ruth auffiel, daß Zofia
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