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Chuzpe: Roman (German Edition)

Chuzpe: Roman (German Edition)

Titel: Chuzpe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lily Brett
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Glückwunschkarten nach, die sie entworfen hatte. Sie war der Ansicht, daß diese Karten den Bedürfnissen feinsinniger Kunden besser entsprechen würden als die weitgehend nichtssagenden Glückwunschkarten, die man überall kaufen konnte. Und sie war der Ansicht, daß ihr diese Karten in wirtschaftlich oder politisch instabileren Zeiten ein sicheres Einkommen verschaffen konnten. Ihre Karte mit der Aufschrift »Warum so selbstkritisch?« verkaufte sich bereits ziemlich gut. Wenn man die Karte aufklappte, las man: »Keine Fehler begeht nur, wer sich in der Urne oder im Sarg befindet.« Ruth war sich nicht sicher gewesen, ob die Erwähnung des Todes – wenn auch noch so indirekt – nicht abschreckend wirken würde. Aber das war nicht der Fall gewesen. Die Karte verkaufte sich gut, genau wie einige andere ihrer neuen Karten.
    Ruth betrat ihr Büro. Ihr Vater war schon da. Offenkundig freute er sich, sie zu sehen. »Meine Tochter ist da«, verkündete er freudestrahlend. Ruth schämte sich, daß ihr Vater sie nervös und unsicher machte. Das hatte er nicht verdient. Er war so liebenswert. Er tat nichts Böses. Er tat niemandem etwas Böses.
    Später am Vormittag kam Edek in Ruths Zimmer. »Möchtest du etwas zum Lunch?« fragte er.
    »Nein, danke, Dad«, sagte sie. »Ich habe noch nicht einmal einen Tee getrunken.«
    »Das weiß ich doch«, sagte er. »Du hast noch nicht einmal dein Zimmer verlassen.«
    »Na ja, ich bin ja auch erst seit zweieinviertel Stunden hier«, sagte sie.
    Edek sah auf ihren Schreibtisch. »Hast du viele Briefe zu schreiben?«
    Ruth legte ihren Stift hin. Sie hatte sowieso vergessen, womit sie gerade beschäftigt gewesen war. Sie versuchte ihren Vater abzulenken. Sie schlug ihm vor, die hundert meistgestellten Fragen auswendig zu lernen, die einem von der Einwanderungsbehörde gestellt wurden, wenn man sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft bemühte. Es waren Fragen wie: Wie heißt der erste Präsident der Vereinigten Staaten? Wie heißt der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten? Wie viele Sterne hat die Nationalflagge? Welche Farbe haben die Sterne? Welcher Tag ist der Unabhängigkeitstag? Unabhängigkeit wovon? Wer hat die Hymne »The Star-Spangled Banner« verfaßt? Wie viele Amendments oder Zusätze enthält die Verfassung? Wer hat gesagt: »Freiheit oder Tod?« Wie heißt die Hauptstadt Ihres Bundesstaates?
    Es waren viele Fragen. Ruth dachte sich, die Antworten auf: Warum besteht der Senat aus hundert Mitgliedern? oder: Wer hat maßgeblich an der Formulierung der Unabhängigkeitserklärung mitgewirkt? oder auch: Wie hieß das Schiff, das die Pilgerväter nach Amerika brachte? auswendig zu lernen würde Edek etwas zu tun geben und ihn eine Zeitlang beschäftigen. »Warum soll ich wissen, was sind die Antworten auf solche Fragen?« sagte Edek. »Denkst du etwa, ich würde mir solche Sachen lange merken? Eine Frau hat mir erzählt, daß man fünf Jahre lang in Amerika gelebt haben muß, bevor man sich darf bewerben um die Staatsbürgerschaft. Ich bin siebenundachtzig. Denkst du, ich würde mir fünf Jahre lang merken die Antworten auf diese Fragen? In fünf Jahren bin ich wahrscheinlich tot. Oder in einem Jahr, oder noch früher.«
    Ruth gab es auf. »Ist schon gut, Dad«, sagte sie und machte sich wieder an ihre Arbeit.
    »Willst du etwas zum Lunch?« fragte Edek.
    »Jetzt noch nicht, Dad, danke«, sagte sie.
    Ruth hatte Schwierigkeiten mit einem Brief, den sie am liebsten nicht geschrieben hätte, als Edek wieder in ihrem Zimmer erschien. Der halbe Nachmittag war vergangen, und sie hatte schon viel zuviel Zeit auf diesen Brief verwendet. Sie schrieb weiter. Edek sagte kein Wort. Er stand nur da und spähte ihr über die Schulter. Sie ignorierte ihn. Sie schrieb einen Brief für eine wohlhabende Witwe, die sich immer prompt bei allen beschwerte, von denen sie sich schlecht behandelt fühlte. In diesem Fall handelte es sich um eine Autowerkstatt, die ihr eine für ihre Begriffe zu hohe Rechnung für einen neuen Rückspiegel ausgestellt hatte. Ruth vermutete, daß der Brief die Kundin mehr kosten würde als die Autoreparatur.
    »Du benutzt zu viele Wörter«, sagte Edek nach ein paar Minuten.
    »Wie?« sagte Ruth.
    »Du hast geschrieben: Der Mechaniker oder die Mechanikerin und so weiter«, sagte Edek.
    »Warum sind das zu viele Wörter?« fragte Ruth.
    »Siehst du das nicht?« erwiderte ihr Vater.
    »Nein«, sagte sie. Sie war müde. Sie hatte keine Lust, dieses Gespräch

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