Chuzpe: Roman (German Edition)
zu führen. Sie wünschte, Garth wäre in New York und sie könnte ihn anrufen und ihn bitten, ihren Vater zu bitten, ihm in seinem Atelier zu helfen. In den letzten Tagen hatte sie wiederholt versucht, Garth anzurufen, ihn aber nie erreicht. Und er rief nicht an. Na ja, nicht oft genug. Sie verspürte Garth gegenüber ein leises Gefühl der Gekränktheit, daß er sie verlassen hatte. Sie wußte, daß sie aufhören mußte, so etwas zu denken. Sie wußte, daß sie sich zusammenreißen mußte. Garth hatte sie nicht verlassen. Sie waren nach wie vor verheiratet. Er war nur in Australien. Eine Million Meilen von ihr entfernt.
»Du hättest nicht brauchen zu schreiben: oder die Mechanikerin«,sagte Edek triumphierend. »Wo gibt es schon Frauen, was sind Mechanikerinnen?«
Ruth versuchte ihm zu erklären, daß die Unterstellung, ein Mechaniker könne nicht ebensogut eine Frau sein, sexistisch sei. Und daß Sexismus äußerst verpönt sei.
»Es ist nicht verpönt«, sagte Edek, »sondern die Wahrheit.«
»Es ist sexistischer Sprachgebrauch«, sagte Ruth. »Genauso, als würde man eine Frau als Köchin und einen Mann als Küchenchef bezeichnen.«
»Das ist meschugge«, sagte Edek. »Ein Küchenchef ist ein Mann, was arbeitet in einem Restaurant, und eine Köchin ist eine Frau, was kocht.« Ruth seufzte. »Natürlich kann ein Küchenchef auch sein eine Frau«, sagte Edek. Ruth war nicht nur müde, sie hatte auch Kopfschmerzen. Sie hatte schlecht geschlafen. Garth fehlte ihr. »Habe ich behauptet, ein Küchenchef könnte nicht sein eine Frau?« sagte Edek.
»Das hast du nicht behauptet«, sagte Ruth, »aber dein Sprachgebrauch hätte es nicht ausgeschlossen. Es gibt Wörter, die etwas anderes nahelegen als das, was sie eigentlich sagen.«
»Und was?« fragte Edek. Ruth versuchte es ihm zu erklären. »Total meschugge«, sagte er, als sie ihre Erklärung beendet hatte.
»Nein, das ist es nicht«, sagte sie müde. »Meschugge heißt geisteskrank, aber hier geht es um eine bewußte Entscheidung.«
»Diese Entscheidung ist geisteskrank«, sagte Edek und nickte zufrieden.
»Nein, das stimmt nicht«, antwortete Ruth. Sie hörte sich sprechen. Sie kam sich vor wie eine Sechsjährige. Warum stritt sie mit ihrem Vater über nichtsexistischen Sprachgebrauch?
»Was ist los mit dir, Ruthie?« fragte Edek. »Du warst nieso schlecht gelaunt mit mir, als ich habe gelebt in Australien. Ich glaube, du arbeitest zu viel. Es ist nicht gut, wenn man arbeitet zu viel.«
»Ich arbeite nicht zu viel, und ich arbeite gerne«, sagte sie. Sie hörte, wie gereizt ihr Ton war. Und sie schämte sich. Es war so leicht, ihrem Vater eine Freude zu machen. Und er hatte kein einfaches Leben gehabt. Sie hingegen sehr wohl. Im Vergleich zu ihm jedenfalls.
Ruth vermutete, daß es Kindern von Holocaust-Überlebenden, vor allem Kindern von Überlebenden der Todeslager, fast unmöglich war, jedes Leid, das ihnen widerfuhr, nicht an dem zu messen, was ihre Eltern durchgemacht hatten. Und das, was die Eltern durchgemacht hatten, war zwangsläufig ausnahmslos schlimmer. Wie sollte man Erfahrungen vorweisen, die sich mit dem messen konnten, was die meisten Juden in einem von den Nazis besetzten Europa durchgemacht hatten? Alles war eine Sache von Leben und Tod gewesen. Kinder von KZ-Überlebenden konnten dem nichts entgegensetzen. Ruth merkte oft, daß sie ihre Alltagskümmernisse und -ärgernisse und ihre schwerwiegenderen Kümmernisse und Ärgernisse immer wieder an Dingen maß, bei denen es um Leben und Tod ging.
Wenn sie hohen Blutdruck hatte, sagte sie bei jeder Erwähnung der Nebenwirkungen und der Dosierung der Medikamente, die sie nehmen mußte: »Aber das ist schließlich keine Sache von Leben und Tod.« Wenn sie etwas verlor oder sich ein gutes Geschäft durch die Lappen gehen ließ oder Streit mit Garth hatte, sagte sie jedesmal: »Schließlich geht es nicht um Leben und Tod«, fast so, als müsse man alles an Leben und Tod messen, um es in der richtigen Perspektive zu sehen. Vor acht oder neun Jahren war ihr Loft in SoHo ausgebrannt. Niemand hatte sich zum Zeitpunkt des Feuers in dem Loft aufgehalten. Als ein Nachbar Ruth auf ihrem Handy angerufen hatte, um sie zu benachrichtigen,hatte sie als erstes gesagt: »Es ist keine Sache von Leben und Tod.«
Als Ruth und Garth sahen, wieviel das Feuer vernichtet hatte, hatte Ruth gesagt, es sei schließlich keine Sache von Leben und Tod. Als sie die Überreste durchforsteten, die verbrannten Relikte
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