Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Sorge, dass alles, was ich tun könnte, ein Klopfen an den Wänden, der Versuch einer List, Hilferufe oder Geständnisse, nur ein Fortschreiten auf dem eingeschlagenen Weg bedeutet. In den dunklen Momenten, in denen mir das Näherrücken der Mauern vorstellbar erscheint, bin ich sicher, welchem Ende dieser Weg zustrebt: Dem Versuch, mir eine erfundene Wahrheit zu entreißen, ein Geheimnis, das ich nicht kennen kann, beheimatet an der durchlässigen Grenze zwischen Leben und Tod.
Wenn ich das Bedürfnis verspüre, etwas zu unternehmen, dann sichte ich die hinter dem Vorhang gelagerten Gegenstände. Zangen, noch eingeschweißt, doch längst nicht mehr steril. Kompressen in durch die Lagerung grau verfärbter Papierverpackung. Ein alter Computer mit eingebauter Tastatur, der, sobald man ihn einschaltet, seitenweise sinnleere Blöcke grüner Zeichen auswirft. Manche Tasten beeinflussen die Ausgabe, aber nie zu meiner Zufriedenheit. Vielleicht führt er in Abwesenheit eines Programms eine Selbstdiagnose durch und legt seinen gesamten Speicherinhalt mir zu Füßen.
Dann ein Karton mit einem reichlichen Vorrat gilbender Informationszet tel zu den verschiedensten Krankheitsbildern und Operationen, noch vor Beginn des Zeitalters der Fotokopie mittels Matrizentechnik vervielfältigt. Sie zeigen in gesperrten Großbuchstaben den Briefkopf des städtischen Krankenhauses, wo Metz, mein ehemaliger Kollege, in der Verwaltung arbeitet. Der Verdacht liegt nahe: Er hat diesen Ort für meine Unterbringung vorgeschlagen.
Der Geruch der Farbe und die Textur des Papiers erinnern mich an die Aufgabenblätter in meiner alten Schule, an Regentage in holzgetäfelten Klassenräumen. Die Rückseite der Bögen ist leer. Und da weiß ich: Ich muss schreiben. Anschreiben gegen den Druck der Wände, die lauernde Gegenwart der Gerätschaften, die das lange, nutzlose Kellerdasein missgünstig hat werden lassen. Ich muss Klarheit erlangen: Muss versuchen, mich zu erinnern, aufschreiben, was geschah. Verstehen, wie ich an diesen Ort gelangte, bevor mein Universum auf den Raum zwischen den gekachelten Wänden zusammenschrumpft, und die Erinnerung blass wird.
Vielleicht gibt es dan n noch einen Ausweg. Für wen? Für mich, natürlich. Aber nicht nur. Ich denke an Schlager in seiner cremefarbenen Uniform: feuerresistent, wasserdicht, atmungsaktiv; durchlässig wie ein Sieb für sein Blut. An Hanna und an die Warnung ihres Engels aus der S-Bahn – wo mag sie jetzt sein?
Mir schwindelt. Es wird Zeit, einen Anfang zu finden.
2
Nicht lange vor Ende des zweiten Jahrtausends setzt ein Telefonanruf die Ereignisse in Gang, an einem sonnigen Maitag; nicht einmal zwö lf Monate ist das her. Ein Angebot, eine Möglichkeit: Zuerst lehne ich ab, schon aus Prinzip, und weil mir die Verneinung liegt. Doch dann ändere ich meinen Entschluss, und die Geschichte beginnt.
Viele Verhaltensmuster haben keinen bedeutenderen Hintergrund, als bloße Gewohnheiten zu sein. Ich weiß selbst nicht ganz, wie, aber es hat sich ergeben, dass ich den größten Teil meines Lebens in einer der am dichtesten besiedelten Gegenden des Landes verbracht habe, wo sich ein Fluss patriarchalisch breit durch die Ebene wälzt, die Städte ineinander übergehen, im Herbst Industrieabgase sich mit Nebeln verbünden und kaum ein Fleck Erde nicht von den Zwängen der Kulturlandschaft bestimmt ist. Die hinter dem Horizont verborgene Nordsee mildert die Temperaturen, nur selten schneit es, und aller Bebauung zum Trotz wuchern an Straßenrändern und Bahndämmen immergrüne Pflanzen, gegen die ich eine undefinierbare Abneigung hege.
Auch die Forste mochte ich nie, durch deren Besuch meine Eltern meiner Schwester und mir die Natur nahe bringen wollten. Sie selbst waren begeistert, herrlich, diese Bäume; auf einer Lichtung zwischen den nackten, aufrechten Stämmen der Tannen eine Futterkrippe für das Wild – aber schon mit drei Jahren erkannte ich intuitiv, dass der See ein Stausee war, und dass gleichmäßig gerasterte Abstände Bäume voneinander trennten, deren Rinden Markierungen trugen wie Nummernschilder. Ich vermisste nicht die Natur an sich, eigentlich machte ich mir nicht einmal besonders viel aus ihr. Ich vermisste das Elementare. Maßstäbe entwickelt man an den Orten der Kindheit, ist es nicht so? Am Ende muss sich alles an den Dingen messen lassen, die man mit Kinderaugen wahrgenommen und einmal vermessen hat. Dunkle Moore zogen mich an, wo es sie noch gab, von Schnellstraßen
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