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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tarek Siddiqui
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in schmale Streifen zerschnitten. Die Vorstellung von Wüste gefiel mir, von kargem Gebirge, von weiten Schneeflächen, aber bei uns gab es nur alle paar Jahre einmal genügend Schnee, um den Schlitten aus der Garage zu holen. Bei den Spaziergängen durch die von Stromleitungen überspannten Felder drängte es mich, den Rhabarber roh zu kosten, obwohl er mir nicht schmeckte; ich aß vom Gras, kaute Körner, wollte Nudeln und Kartoffeln roh probieren, ohne Zubereitung und ohne Umwege. Einmal stopfte ich mir eine Handvoll Mehl in den Mund, musste husten, bekam keine Luft mehr, schluckte mit Mühe, nahm noch eine Handvoll –

    So mag es auf den ersten Blick ein Widerspruch sein, dass ich der Heimat meiner Kindheit nicht nur treu blieb, sondern dass sich diese Geschichte ohne Zwang in einem der heimlichen Zentren der Region entfaltet: In einer Stadt, die von und für die chemische Industrie lebt, ihren Erfordernissen nach angelegt ist, verkehrsgünstig, geradlinig, reich an Beton, und ich weiß nicht - ist das Zufall? In einer Stadt, in der die Mehrheit der Erwerbstätigen bei ein und demselben Betrieb angestellt ist, in Schichten und Bürodiensten, um am freien Wochenende dem unternehmenseigenen Verein zuzujubeln? Wo über dem unablässig aufsteigenden Rauch des Fabrikgeländes hell beleuchtet und überdimensional das Unternehmenslogo schwebt wie ein religiöses Symbol?

    Mir war es gleich. Immerhin nutzt die bei weitem überwiegende Mehrheit der Menschen die Produkte der chemischen Industrie, irgendwo müssen diese also hergestellt werden. Die stadtplanerischen Sünden, der Versuch, aus einer Anzahl verstreuter Ortschaften und Kleinstädten eine Verwaltungseinheit zu formen, die den Erfordernissen der Massenproduktion entsprach: Vielleicht übte der offenkundige Mangel an Perfektion sogar eine eigene Anziehungskraft aus. Ich wüsste nicht zu benennen, warum, aber nein, es ist kein Zufall: Diese Stadt ist mehr als ein bloßer Schauplatz, sie ist unverzichtbarer Teil dieser Geschichte.
    Vielleicht gefiel es mir hier, weil die Stadt nicht vorgab, etwas anderes zu sein, als sie war. Nicht wie ein Trinkwasser- und Energiespeicher, der vorgibt, ein See zu sein, oder wie die plangerecht bewirtschafteten Konzentrationen von Bäumen, die wenig mit den Urwäldern des frühmittelalterlichen Europas gemein haben. Das hier war eine Industriestadt, und sie war nicht auf Komfort oder gar Schönheit ausgerichtet, nicht auf den Menschen: Es gab keinen Versuch, darüber hinwegzutäuschen.

    Unverhältnismäßig viele Straßen trugen die Namen nie gehörter Personen. In der Peripherie wurden die Bezeichnungen dann anschaulicher: Bellavista hieß der Vorort, indem ich ein Ein-Zimmer-Appartement gemietet hatte. Nicht nur im Lokaljargon; so stand es tatsächlich auf den Hinweistafeln und im Stadtplan. Und wirklich, das Hinterland wellte sich von hier weniger dicht bebaut gen Osten, und im Winter reichten die wenigen Meter Höhenunterschied zum Stadtzentrum und dem Fabrikgelände gelegentlich aus, dass der Blick aus meinem Fenster über den Dunst der Niederung und das auf Stelzen geführte Autobahngewirr hinweg in die Ferne reichte.

    Das Haus bot, neben achtzig Wohneinheiten, zwei Supermärkten Platz. Es war weiß gestrichen, innen wie außen, nackt und schlicht. Ein helles Treppenhaus, dann der dritte Stock, der sich nur in winzigen Details von den anderen unterschied, mit seinem fensterlosen, muffig riechenden, aber wöchentlich gesäuberten Korridor und den schweren, weiß lackierten Feuerschutztüren.

    Achtundzwanzig Quadratmeter, das war mir gerade recht; im Studentenwohnheim waren es weniger gewesen. Groß waren nur die Fenster. Ansonsten alles schmucklos, ein blaugrauer Nadelfilzteppich, darauf Schrank, ein kleiner Tisch, zwei gestapelte Matratzen als Bett, eine minimalistische Küchenzeile mit zwei Herdplatten und Kühlschrank, ein weiß gefliestes Bad mit Dusche. Neutral, anonym, unauffällig; keine Nachbarn, die sich erkundigten oder Anteil nahmen. Ich fühlte mich wohl.
    Die Fenster gingen hinaus in Richtung Hof, mit Blick auf einen Geträ nkemarkt, der schon lange vor Sonnenaufgang beliefert und am frühen Abend viel besucht wurde. Wenn sich nicht gerade zwei Kunden um einen Parkplatz stritten, waren die einzigen Geräusche das Klirren der Flaschen in den Kisten aus Plastik und das gedämpfte Motorengeräusch der Autos, so als sei dort eine gut funktionierende Maschine am Werk. An den Winterabenden, wenn die Dämmerung

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