Clarissa
Schrei aus — einen Schrei, der Clarissa an Raine erinnerte, als er die Nachricht von Marys Tod erfuhr. Sein Schrei war diesem sehr ähnlich gewesen.
»Ein Leben für ein Leben«, flüsterte Brian auf Clarissas Schoß. »Nun kann Mary in Frieden ruhen. «
Mit zitternder Hand berührte Clarissa Brians verschwitzte Wangen, sah zu, wie er seinen letzten Atem ausstieß und in ihren Armen starb.
»Laßt ihn«, sagte Roger, während er sich vorbeugte und die Leiche seines Bruders auf seine Arme nahm. »Er gehört jetzt mir. «
Clarissa stand mit blutdurchtränktem Gewand da und beobachtete, wie Roger Brian zu den wartenden Lehnsmännern der Chatworth’ trug und ihn auf sein Pferd lud.
»Clarissa«, sagte Joss neben ihr. »Ich verstehe das nicht. Warum trägt Chatworth Raines Leiche mit sich fort? «
Ihr Körper zitterte so heftig, daß sie kaum zu sprechen vermochte. »Brian hat sich Raines Rüstung angezogen, und Roger hat seinen eigenen Bruder getötet. «
»Aber wie…? « begann Joss.
Joan hielt eine Disteldaune in die Höhe, die mit Blut durchtränkt war. »Er muß das schon lange geplant haben. Er hat die Daunen dafür benützt, Lord Raines Rüstung auszustopfen, damit sie ihm paßte. «
Clarissa drehte sich den beiden mit geweiteten Augen zu. »Wo ist Raine? Er würde niemals geduldet haben, daß Brian sich seiner Rüstung bedient. «
Es dauerte eine Weile, bis sie Raine entdeckte, der schlafend in seinem Lederkoller, seiner Rüstung entkleidet, unter einem Baum ruhte. Joan lachte, als sie ihn sah, doch Clarissa blieb ernst. Die unnatürliche Lage von Raines Körper erschreckte sie.
»Gift! « schrie Clarissa und rannte zu ihrem Mann. Da sein Körper noch warm war, wußte sie, daß er nicht tot sein konnte; doch wenn sie ihn nicht gefunden hätten, wäre er vermutlich gestorben.
»Hol sofort Rosamund hierher«, rief Jocelin zu Joan gewendet.
Clarissa begann, Raines Wangen mit den Händen zu bearbeiten, als ihre Stimme ihn nicht aufwecken konnte. »Hilf mir, ihn aufzurichten. «
Jocelin und Clarissa mußten ihre ganze Kraft zusammennehmen, um Raines leblosen Körper auf die Beine zu stellen.
Rosamund kam herbeigeeilt, und nach einem Blick auf Raine sah sie Joss mit angstgeweiteten Augen an. »Ich hoffte, ich hätte mich geirrt. Mir wurde vor zwei Tagen mein Opium gestohlen, und ich hoffte, der Dieb wußte, wie man damit umgeht. «
»Opium? « fragte Clarissa. »Ist das nicht ein Schlafmittel? Meine Schwägerin benützte es. «
»Es ist ein ziemlich gewöhnliches Mittel«, antwortete Rosamund, »nur wissen die meisten Leute nicht, daß man nicht mehr aufwachen könnte, falls man zuviel davon nimmt. «
Clarissa sah sie entsetzt an. »Du glaubst doch nicht, daß Brian Chatworth Raine zuviel Opium eingeflößt hat, oder? «
»Ein Fingerhut voll ist zuviel. Wir müssen annehmen, daß Raine zuviel Opium eingenommen hat. Komm, wir haben sehr sehr viel Arbeit vor uns. «
Es dauerte einen ganzen Tag, bis sie Raines Körper von dem Gift gereinigt hatten. Rosamund flößte ihm übelschmeckende Kräutermischungen ein, die ihn zum Erbrechen brachten, seine Eingeweide leerten. Und ständig lösten sich die Männer ab, die ihn im Kreis herumführten. »Schlafen, laßt mich schlafen«, war alles, was Raine lallen konnte.
Clarissa ließ nicht zu, daß die Männer aufhörten, ihn herumzuführen, und sie bestand auch darauf, daß das Einflößen der üblen Kräuterbrühen nicht unterbrochen wurde. Nach vielen Stunden begann er wieder die Macht über seine Füße zurückzugewinnen und konnte ein wenig aus eigener Kraft gehen. Sein Körper enthielt keine feste Nahrung mehr, und Rosamund zwang ihn nun, eimerweise Wasser zu trinken, weil sie hoffte, damit auch das letzte Quentchen Gift aus ihm herauszuspülen. Raine war inzwischen wach genug, um etwas lauter dagegen zu protestieren.
»Du hast mich nicht verlassen«, sagte er einmal zu Clarissa.
»Ich hätte es tun sollen, aber ich tat es nicht«, schnappte sie. »Trinke! «
Am Nachmittag des zweiten Tages gestattete Rosamund endlich, daß Raine schlafen dürfe, und dankbar legten sie und Jocelin sich ebenfalls zur Ruhe. Unglaublich erschöpft ging.
Clarissa zu den Leuten im Lager und bedankte sich persönlich für die Hilfe, die sie ihr und Raine geleistet hatten.
»Ihr solltet jetzt auch ein wenig schlafen«, drang eine mürrische Stimme zu ihr, und Clarissa erkannte an ihr einen der Männer, die sie des Diebstahls beschuldigt hatten. »Wir wollen nicht einen
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