Clementine
Augenwinkelblick, was mein Dad im Wohnzimmer meinem Bruder vorlas.
»Halt!«, schrie ich. Dann jagte ich hinüber, sprang auf seinen Schoß und konnte das Buch gerade noch zuschlagen.
»Limabohne ist noch so klein, Dad!«, erinnerte ich ihn. »Diese Schuhe machen ihm doch Angst!«
»Erstens heißt dein Bruder nicht Limabohne«, sagte mein Dad. »Und zweitens, was für Schuhe, Clementine?«
Ich hab euch ja gesagt, Aufpassen ist nicht seine starke Seite – diese Schuhe zu übersehen ist wirklich nicht leicht.
»Die spitzen grünen, die der Bär da anhat«, flüsterte ich. »Auf Seite vierzehn.«
Das weiß ich zufällig. Okay, meinetwegen, ich seh mir die Seite ziemlich oft an. An manchen Tagen jage ich mir gerne ein wenig Angst ein. Es war aber gerade keiner von diesen Tagen.
»Das ist doch bloß ein Bild, Kumpel«, sagte Dad. »Das ist nicht echt. Willst du mal versuchen es dir mit mir zusammen anzusehen?«
»NEIN!«, schrie ich. Und dann war ich sauer, weil ich jetzt diese spitzen Schuhe im Kopf hatte und sie mich den ganzen Tag quälen würden. Ich sprang von Dads Schoß und rannte zurück in die Küche, weil ich entdeckt habe, dass sehr vieles, was man essen kann, rund ist: Cookies, Hamburger, Pizza, Pfannkuchen, Rosinenschnecken, Äpfel – was auch immer, alles Leckere ist rund.
Ich schnappte mir zwei Scheiben Wurst und zerbiss sie zu einer Brille, das ist ein Trick, den ich erfunden habe und den nur ich kenne, aber jetzt kennt ihr ihn auch. Ihr faltet eine Scheibe Wurst zusammen und beißt dann in die Mitte der gefalteten Seite. Und dasselbe noch mal. Dann legt ihr euch die Kreise über die Augen und ihr habt eine Wurstbrille. Hier ist ein Bild davon:
Und weil ich eine so liebe Schwester bin und, okay, meinetwegen, weil ich noch Hunger hatte, machte ich auch für meinen Bruder eine.
»Hier, Erbsenschote«, sagte ich, kletterte wieder auf Dads Schoß und klatschte meinem Bruder die Brille auf die Augen. »Setz deine Brille auf.«
Mein Bruder musste so sehr lachen, dass er seine Frühstückswaffel ausspuckte, und meine Eltern sagten genau gleichzeitig: »Cle-men-tine, bitte!« Ich glaube, sie üben das nachts, wenn ich schlafe, aber sie lachten dabei auch.
Und plötzlich war es ein ziemlich guter Tag, obwohl mir doch ein Loch in den Kopf geschrubbt worden war.
Dieses Guter-Tag-Gefühl erinnerte mich an all die Schlechter-Tag-Gefühle, die ich in dieser Woche schon gehabt hatte, und dann musste ich an Margret denken und dann hüpfte mir die beste Idee von allen ins Gehirn.
Weil ich so gut aufpassen kann, weiß ich genau, was Margret gefällt. Und deshalb lief ich durch unsere Wohnung und sammelte alles ein:
Polka Dotties Flohhalsband, weil Margret meine alte Katze so geliebt hat.
Peperoni, weil das die einzige Pizzasorte ist, die sie meines Wissens je gegessen hat.
Die roten Schuhe, die ich Barbie immer anziehen muss, wenn wir damit spielen.
Eine blaue Eichelhäherfeder aus meiner Sammlung, weil Blau ihre Lieblingsfarbe ist.
Ein paar M&Ms, weil sie meine angehaucht hat.
Mein Glücksarmband, weil sie es immer mit Hätt-ich-gern-Augen anstarrt.
Spitzen, die ich von meinen Partysocken riss, weil ich sie mal von Margret ausgeborgt hatte ohne es ihr zu sagen.
Rosa Glitzernagellack, weil sie den von mir ausborgen wollte, aber dabei habe ich sie erwischt.
Eine tote Hummel – warum, weiß ich nicht.
Meine restlichen abgeschnittenen Locken, weil damit doch der ganze Ärger angefangen hatte.
Dann holte ich den Lieblingshut meiner Mutter, eine sehr große Flasche Leim und Dads Rasierwasser, mit dem Margret und ich uns schrecklich gern überall besprenkelten, weil es so ein himmlisches Aroma hat.
Ich klebte und klebte und sprenkelte und sprenkelte. Und ich lächelte. Und dann rannte ich los, und ratet mal, wer mir im Fahrstuhl über den Weg lief? Margret! Ohne Amanda-Lee!
»Ich hab was für dich«, sagten wir beide genau im selben Moment, was wir noch nie geübt hatten. Dann gab ich ihr den Margrethut und sie gab mir eine Tüte. Darin war ein nagelneuer, nicht platt gesessener Glitzerfarbkasten.
»Den hab ich aus der Einkaufspassage«, sagte Margret. Und dann, ohne dass irgendwelche Erwachsenen ihr das aufgetragen hatten, sagte sie, dass es ihr leidtat, dass sie an meinem Geburtstag gemein zu mir gewesen war.
»Und mir tut das mit deinen Haaren leid«, sagte ich.
»Okay, schon gut«, sagten wir beide. Und das war es auch. Für etwa eine Minute. »Ich muss jetzt los«, sagte Margret.
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