Cleopatra
Erinnerung lebendig bleiben.
»›Denk noch einmal darüber nach‹, sagte er? Worüber sollte sie denn noch einmal nachdenken?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es klingt, als sei es um mehr gegangen als nur um eine Urlaubsreise«, sagte ich. »Was für ein Taxi war es?«
»Darauf habe ich nicht geachtet.« »Wissen Sie, wer es gerufen hat?«
»Nein.«
»Wo war Lonneke?«
»Lonneke war in der Schule.«
»Hatte ihre Mutter sich von ihr verabschiedet, bevor sie in die Schule ging?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Ihr vorwurfsvoller Tonfall machte mich stutzig. »Wollen Sie damit sagen, dass Cleopatra eine Urlaubsreise ins Ausland antrat, ohne ihrer Tochter etwas davon zu sagen?«
»Ja.«
Wieder diese strenge Missbilligung. »Glinka, dieser Streit mit dem Minister und die Tatsache, dass sie nicht abgeholt wurde, sondern ein Taxi nahm …«
»Ich habe doch gesagt, dass ich nichts weiß!«, fuhr sie mich plötzlich an.
»Aber Sie haben doch bestimmt darüber nachgedacht. Der Streit, das Taxi, die Tatsache, dass sie Lonneke nichts sagte – wäre all das nicht viel logischer, wenn es sich um einen Freund und nicht um eine Freundin gehandelt hätte?«
»Mevrouw Cleopatra ist tot. Es ist nicht recht, schlecht über sie zu denken. Ich kann das auch nicht glauben. Meneer Josef gab ihr alles, was sie sich nur wünschen konnte.«
Nichts Schlechtes über die Toten. »Und als Lonneke aus der Schule kam und ihre Mutter weg war …«
Ihre Missbilligung war deutlich spürbar. »Lonneke konnte ein Jahr lang nicht schlafen. Sie hatte Angst vor dem Alleinsein. Ich musste sie jede Nacht zu mir ins Bett nehmen. Nur so konnte sie einschlafen.«
Ich blickte auf ihren Busen. Schon vor zwanzig Jahren musste er eine Quelle unkomplizierten, irdischen Trostes gewesen sein. »Ist sie inzwischen darüber hinweg?«
»Sie trägt es noch irgendwie mit sich herum«, antwortete Glinka, nachdem sie kurz nachgedacht hatte. »Vielleicht kann sie deswegen einfach nicht glücklich werden.«
»In ihrer Ehe?«
Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Sie ist doch geschieden!?«
Richtig. »Reden Sie oft mit ihr?«
»Natürlich. Aber das sind Privatangelegenheiten.«
Es ist ein Klischee, dass Polizeibeamte Privatdetektive nicht leiden können. Klischees werden zu Klischees, weil sie wahr sind. Polizeibeamte können Kollegen nicht leiden, die ihre Uniform an den Nagel hängen und sie gegen eine üppig bezahlte Stellung in der Industrie oder als Sicherheitsberater des Präsidenten von Burkina Faso eintauschen. Natürlich beruht diese Reaktion hauptsächlich auf Missgunst, aber sie sind auch verbittert darüber, dass dieser Mann allein vorwärts kommt, während sie selbst auf der Strecke bleiben, weil bei der Polizei niemand ohne die Hilfe seiner Kollegen Karriere machen kann.
Ich habe den Vorteil, dass jeder Kriminalbeamte nachvollziehen kann, warum ich ausgestiegen bin. Polizisten gehören auf die Straße, das liegt ihnen im Blut und sie begreifen, dass ein Kollege, der angeschossen wurde, sich lieber auf eigene Füße stellt als abzuwarten, bis man einen Schreibtischposten für ihn gefunden hat. Die meisten finden diesen Entschluss richtig. Sie betrachten das Ganze als eine Art höhere Gewalt im Rahmen des Dienstes. Sie alle lesen das Polizeiblatt, die internen Lagebilder und die Berichte über Veränderungen im Kollegenstamm.
»Hey, Max, was machst du denn hier?«
Ich drehte mich um. Ich stand gerade am Empfang, wo sich eine rothaarige Beamtin strikt weigerte, mir zu sagen, wo Kommissar Vrijman war, und mir zu erklären versuchte, dass es besser sei, vorher telefonisch einen Termin zu vereinbaren.
Gert Verhagen grinste mich an. Er war molliger als der Schüler von der Polizeischule, an den ich mich erinnerte, aber er sah noch immer aus wie der schlimmste Radaubruder unserer ganzen Truppe.
»Ich versuche gerade, zu Kommissar Vrijman durchgelassen zu werden.«
»Der ist dienstlich in Den Haag.« Er wandte sich zu der Beamtin. »Schon gut, den übernehme ich.«
»Ich muss ein paar Veränderungen in der Dienststelle verpasst haben«, sagte ich. »Ich dachte, du wärst in Haarlem.«
»Das ist schon eine Weile her. Der Vechtstreek gefällt mir besser.«
»Das sieht man dir an.«
Er klopfte sich auf den Bauch. »Gesunde Luft! Und mit einer guten Köchin verheiratet. Unerwünschte Vertraulichkeiten unter Kollegen gibt’s auch nicht mehr, was, Ada? Wie soll ein Mann denn da schlank bleiben?«
Die Rothaarige kicherte. »Dafür haben wir
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