Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
hat Krebs. Er stirbt, Joe. Die Ärzte - und er hat die besten konsultiert - geben ihm maximal noch sechs Monate. Haben Sie von Sir Hector Munro gehört? Dem ehemaligen Hausarzt am britischen Hof? Eine Koryphäe seiner Zunft. Er weilt auf unbestimmte Zeit bei dem Fürsten in Rani-pur und behandelt ihn, soweit es ihm möglich ist.
Und natürlich hält er uns über das Fortschreiten der Krankheit auf dem Laufenden. Die Thronfolge - und die liegt immer im Ermessen des Herrschers - ist für die Briten von beträchtlichem Interesse. Es ist üblich, wenn auch nicht zwingend vorgeschrieben, den ältesten Sohn als Erben zu bestimmen, und bis letzten Monat hatte Udai zwei Söhne, also hätte man annehmen können, die Sache sei klar. Aber jetzt nicht mehr.«
»George, Sie erzählen mir besser, was letzten Monat geschah«, meinte Joe mit düsterer Vorahnung.
»Schändlich, wirklich schändlich! Der älteste Sohn starb. Wie war doch gleich sein Name? Ach ja, Bis-han. Jeder Gerichtsmediziner hätte auf Tod durch Unglücksfall befunden, aber die Umstände waren meiner Ansicht nach ein wenig rätselhaft. Allerdings kein großer Verlust! Wir gingen davon aus, dass er der Erbe sein würde, und das machte uns nicht glücklich. Der Bursche war eine Art Schwamm auf zwei Beinen - Alkohol, Opium, Absinth, er schluckte alles, was er kriegen konnte. Keinerlei Interesse an gar nichts, abgesehen von seiner eigenen Befriedigung, und infolgedessen ein recht unbeliebter Mann, aber seine schreckliche, alte Mutter, die First Lady, setzte sich für ihn ein. Sie war zwanzig, als sie vor über dreißig Jahren Udai heiratete; er war damals ein Kind von dreizehn Jahren. Ein unternehmungslustiges Kind, denn sie schenkte ihm bald darauf einen Sohn. Es folgten noch einige Töchter, deren Namen ich nicht kenne - alle mit Prinzen aus angrenzenden Reichen verheiratet. Ein oder zwei Söhne starben im Kindsbett, wenn ich mich recht erinnere. Jahre später heiratete Udai seine zweite Frau, und auch sie bekam einen Sohn. Der muss jetzt Ende zwanzig sein.«
»Es gibt also kein unmittelbares Problem?«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Jeder seufzte erleichtert auf, als der älteste Sohn sein unrühmliches Ende fand, aber nun steht der zweite Sohn auf der Matte, und aus unserer Sicht ist er kaum besser. Er ist Trinker wie sein Bruder - auch wenn es heißt, dass er dem Alkohol abgeschworen hat -, aber was seinen Vater wirklich erboste, ist die Tatsache, dass er vor kurzem auf einer Reise in die Vereinigten Staaten geheiratet hat, und zwar eine ziemlich unschickliche Frau. Amerikanerin. Irgendeine Tänzerin. Es heißt, sie sei beim Zirkus gewesen. Bildschön, wie man hört, aber eine Nervensäge. Weigert sich, mit den anderen Frauen in der Zenana zu wohnen, und besteht auf einer separaten Unterbringung. Fährt in einem cremefarbenen Sportwagen mit scharlachroter Innenausstattung, trinkt zu viel Champagner und flucht wie ein Bierkutscher.«
»Klingt amüsant!«, meinte Joe unbedacht.
»Ein ausschweifendes Pärchen, aber einander offenbar sehr zugetan. Prithvi hat sich den Vorschlägen, ja Befehlen seines Vaters widersetzt, sich ein anständiges, indisches Mädchen als Zweitfrau zu nehmen, um die Thronfolge zu sichern. Wissen Sie, es gibt da ein Gesetz - ein britisches Gesetz -, dass Kinder aus Verbindungen mit westlichen Frauen nicht erben dürfen, darum hat Prithvi seinen Vater mit der Wahl seiner Gattin wirklich auf die Palme gebracht! Man könnte sagen, er hat das Vater-SohnBand durchtrennt. Prithvi und seine Frau haben sich angeblich auf einem Flugplatz kennen gelernt. Das ist eine weitere Leidenschaft von Sohn Nummer zwei: Er ist verrückt aufs Fliegen. Hat ein Flugzeug in Ranipur und fliegt es ständig - ziemlich tollkühn, wie man hört. Alles andere als versicherungsfähig.«
»Gibt es eine Alternative?«
»Es ist durchaus gang und gäbe, dass der Herrscher einen beliebigen Nachfolger ernennt - man darf nicht vergessen, dass Udai selbst ein einfacher Dorfjunge war, ein entfernter Verwandter, als er entgegen aller Wahrscheinlichkeit zum Herrscher bestimmt wurde -, und es muss Hunderte von Verwandten geben! Udai hat die freie Auswahl. Es muss nicht einmal ein Mitglied seiner eigenen Familie sein. Sein älterer Bruder, dem er gewissermaßen vor die Nase gesetzt wurde, ist sein Dewan, eine Art Premierminister, könnte man sagen. Ein sehr vernünftiger und solider Kerl. Zalim Singh. Ein Staatsmann. Er denkt sicher, dass er gut im Rennen liegt. Und wenn
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