Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
dem so wäre, wäre uns das durchaus recht. Es gibt allerdings einen ernsthaften Mitbewerber. Den habe ich schon geraume Zeit im Auge.«
Joe wartete und fragte sich, ob er sich Notizen machen sollte.
George plauderte genüsslich weiter. »Der Fürst hat einen dritten Sohn. Illegitim. Der Sohn einer seiner Konkubinen. Der Junge ist freilich erst zwölf Jahre alt.«
Joe ließ sich nicht täuschen. »Zwölf Jahre alt? Für Eindrücke empfänglich? Noch formbar? Braucht er einen disziplinierten Regenten, der ihm zeigt, wo es lang geht?«
»Sie haben es erfasst! Der Kleine ist ein heller Kopf! Ich bin ihm einmal begegnet. Man könnte sagen, ich habe ihn unter die Lupe genommen. Interessiert sich für Wissenschaft und Astronomie. Ist auch ein guter Jäger. Hat vor drei Jahren seinen ersten Leoparden erlegt. Spricht fließend Englisch, und er kommt gut mit Claude aus, was wichtig ist. Falls er der Thronfolger werden sollte, braucht er einen Regenten, der ihn in den Jahren seiner Minderjährigkeit anleitet, und wer wäre besser geeignet als Claude? Wir planen, den Jungen nächstes Jahr ans Mayo College in der Nähe von Jaipur zu schicken, um seine Ausbildung abzurunden. Oder nach Eton und dann nach Sandhurst, wenn er will.«
»Dann ist die sichere Wette also Sohn Nummer drei. Sie haben mir noch nicht erzählt, was genau geschah, um Nummer eins permanent aus dem Rennen zu werfen, George.«
Sir George zögerte und nahm einen Schluck Whisky, bevor er antwortete. »Sie müssen verstehen Joe, dass wir es hier mit einer ziemlich ... äh ... fremden Kultur zu tun haben. Bis vor kurzem waren die hiesigen Burschen - und ich muss sagen, sie sind es weitgehend immer noch - rajputische Krieger. Eine ganz besondere Rasse. Hindus mit einer Prise Moslem. Viele dieser Rajput-Stämme kämpften seinerzeit mit suizidaler Tapferkeit gegen die MogulInvasoren. Einige, wie Udais Bande, brachten es sogar fertig, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Das sind allesamt harte Nüsse - schwer zu knacken! Sie sind sehr wild, sehr stolz, streitlustig und eigensinnig. Stellen Sie sich einen schottischen Stammesführer vor, wenn Sie wollen, aber unbesiegt und mit einem riesigen Vermögen in der Schatzkammer.«
»Fällt mir nicht leicht, aber ich habe eine ungefähre Vorstellung!«
»Sie legen auch allergrößten Wert auf körperliche Tapferkeit und Kraft. Da sie ihre Tüchtigkeit nicht länger auf dem Schlachtfeld beweisen können, zeigen sie ihr Können im Sport. Jagd, Ringen, Polo, Elefantenkämpfe, Wildschweinhatz, in der Art. Lassen Sie sich die Waffenkammer zeigen, wenn Sie schon einmal dort sind - sie ist etwas ganz Besonderes. Tja, offenbar war es die charmante Angewohnheit von Sohn Nummer eins, seine Kraft unter Beweis zu stellen, indem er mit Panthern Ringkämpfe veranstaltete.«
»Lieber Himmel! Ich bin überrascht, dass man dem Thronerben so etwas erlaubte!«
»Es war nicht ganz so gefährlich, wie es klingt. Leider muss ich sagen, dass der Bursche seine Chancen manipulierte. Er sperrte einen schwarzen Panther in einen großen Käfig im Hof des Palastes. Dem ließ er die Klauen entfernen und die Kiefer zusammennähen. Jeden Morgen ging er hinunter und rang zu der katzbuckelnden Bewunderung seiner Höflinge mit dem Tier. Er pflegte die Panther auf diese Weise zu benützen und sie dann in das Elefantengehege werfen zu lassen, damit die Dickhäuter etwas Übung im Tottrampeln bekamen.«
Joes Lippen wurden vor Abscheu zu einer schmalen Linie, aber er blieb stumm.
Sir George fuhr fort, seine Fröhlichkeit klang jedoch gezwungen. »Eines Tages rollte dieser charmante Mensch aus dem Bett, sprach sein Morgengebet, nahm seine übliche Dosis Opium zu sich, um sich Kraft und Mut einzuverleiben, und ging hinunter zu seinem Frühstücksringkampf. Das Problem war nur, dass dieses Mal der Panther gewann. Während der Nacht hatte jemand den klauenlosen Panther durch ein frisches und recht wütendes Tier ersetzt, das nicht nach den Regeln spielen wollte. Es riss ihn in Stücke.«
»Entsetzlich!«, murmelte Joe. »Hat man herausgefunden, wer das Tier ausgetauscht hat?«
»Ich nehme nicht an, dass so etwas wie eine Ermittlung durch Scotland Yard stattfand, aber es gab eine Vergeltungsmaßnahme. Der Oberstallmeister und alle seine Gehilfen verschwanden auf der Stelle und wurden niemals wieder gesehen. Man geht davon aus, dass sie heimlich hingerichtet wurden.«
»Hatte Claude Vyvyan kein Mitspracherecht?«
»Offenbar nicht. Ich warte noch auf
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