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Cleverly, Barbara - Die List des Tigers

Cleverly, Barbara - Die List des Tigers

Titel: Cleverly, Barbara - Die List des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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erhellt wurde. Erst in zwei Stunden würden die Strahlen der Sonne Hitze und Farbe in die Welt ergießen. Noch zwei Stunden, bis die Flammen auf dem Scheiterhaufen ihres Herrn zum Himmel züngeln würden, um sich dort mit den Strahlen der Sonne zu vermischen.
    Sie stand einen Moment reglos, fühlte sich eins mit einer Welt, der alle Farbe entzogen war, genoss die tiefe Stille. Jenseits des Flusses bellte ein Hund in der Wüste und erhielt einen Augenblick später Antwort von seinem Gefährten. In zwei Stunden würde ihr Bellen ungehört bleiben, von einer Welle an Geräuschen aus dem Palast übertönt. Es würde Jammern und Wehklagen wie nie zuvor geben. Die Menge würde rufen: »Ram nam sat hai!« - Gottes Name ist Wahrheit! Trommeln würden geschlagen, und der Scheiterhaufen auf dem Bestattungsplatz würde in exakt dem Moment entzündet, in dem die Sonne aufging, begleitet von dem letzten Kanonensalut für den Herrscher. Neunzehnmal würden die großen Kanonen am Elefantentor donnern. Neunzehnmal, denn Udai war ein Maharadscha gewesen, ein großer Herrscher. Lal Bai schwor, den Kanonendonner so weit mitzuzählen, wie sie zählen konnte.
    Chichi Bai erinnerte sie besorgt daran, dass alles für ihre Gebetszeremonie bereit war, aber zuerst, vor dem Puja, müsse sie sich waschen und anziehen. Silberschüsseln und Kupfergefäße waren bereitgestellt, gefüllt mit duftenden Ölen und Wasser. Wie betäubt bot Lal Bai ihren Kopf und dann ihre Gliedmaßen für die rituelle Reinigung und die Duftmassage an. Als dieser Teil abgeschlossen war, legte sie den leuchtend roten Seidenrock an, den ihre Zofe ihr entgegenhielt, dann das enge Oberteil und das Ganghra. Einer nach dem anderen wurden die Elfenbeinreife über ihren Oberarm gestreift und die goldenen Fußkettchen über ihre mit Henna bemalten Füße, denn sie hatte sich entschieden, an diesem Tag das Kostüm einer Braut zu tragen. Schließlich legte Chichi Bai die kostbarste von Lal Bais Rubinketten um den Hals ihrer Herrin.
    Ein safrangelber Faden zog sich durch die graue Seide des Himmels. »Es ist Zeit«, flüsterte Chichi Bai. Sie ging zur Tür und öffnete sie. Eine Eskorte Palastdiener hatte sich draußen versammelt und eine Reihe gebildet, stumm, aber voller Trauer und erregt. Ihre Zofe zog sich unter Tränen zurück und stellte sich zu den anderen Frauen vor die Gitter-fenster. Lal Bai begab sich in die Mitte der Gruppe, bereit, sich der Prozession zum Flussufer anzuschließen. Sobald sie vor den Blicken der störenden Ferenghi geschützt waren, begannen sie ihren Bestattungschor.
    »Ram! Ram!«, fing Lal Bai mit ihrem eigenen Gesang an, als sich die Prozession in Bewegung setzte.
    Als sie in den Hof kamen, blieben sie stehen, aufgehalten von der Mauer an Geräuschen, auf die sie stießen. Die ganze Stadt hatte sich im Hof und auf den Stufen, die zum Fluss führten, versammelt, um Udai Singh, lärmend und trauervoll, ihren Abschied zu entbieten. Auf dem Bestattungsplatz unter ihnen stand ein Fackelträger neben dem Scheiterhaufen und wartete auf den Leichnam des Herrschers. Sie sahen zu, wie die Totenbahre durch das Elefantentor getragen wurde. Lal Bais Augen glänzten erregt und sehnsuchtsvoll, als sie einen letzten Blick auf ihren Herrn erhaschte, königlich geschmückt im zeremoniellen Kostüm und mit Ringelblumengirlanden. Alles war bereit.
    Noch nicht ganz. Es gab eine letzte rituelle Geste, die sie befolgen mussten, bevor es weitergehen konnte. Ein Diener trat vor, einen Topf mit Ocker in der Hand. Ohne ihren Gesang zu unterbrechen steckte Lal Bai die rechte Hand in die Farbe und zog sie dann wieder heraus. Begleitet von einem zunehmend inbrünstigen Gesang der Trauermenge, die voller Ehrfurcht und Respekt auf die entschlossene, kleine Gestalt schaute, schritt Lal Bai feierlich zu der Pa-lastmauer neben dem Elefantentor und presste ihre rote Hand fest auf die glatte, weiße Oberfläche.
    Der erste Kanonenschuss donnerte seinen Salut für den Herrscher. Lal Bai begann zu zählen.
    Glossar
Achkan
knielanger Mantel
Angrez
Engländer, Engländerin
Bapuji
Hindi »geliebter Vater«
Chaprassi
Bürobote, Amtsdiener
Chota Peg
kleines alkoholisches Getränk
(Gin & Tonic oder Whisky)
Dewan
Großwesir
Dhoti
Lendenschurz
Dopatta
Schal, Überwurf
Durbar
Galaempfang
Ferenghi
Europäer
Ghuls Khana
Badezimmer
Ghungat
Schleier
Haveli
Prachtbau
Howdah
Sänftensitz auf einem Elefanten-
rücken
Hookah
Wasserpfeife
Hukham
Hoheit
Kedgeree
Reisgericht mit Fisch und

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