Coco Chanel & Igor Strawinsky
Muttergottes aufstiegen.
Neben ihrem Bett sah sie das Ikonentriptychon, das Igor ihr geschenkt hatte, nachdem er Garches vor ungefähr fünfzig Jahren verlassen hatte. War es wirklich schon so lange her?
Sie lächelte, während sie darüber nachsann, welche Zufälle dazu geführt hatten, dass sie sich im dichten Gewebe des Jahrhunderts in den Lebensfäden des anderen verfangen hatten. In ihrer Erinnerung bildete ihre Affäre ein lebhaftes Muster, einen kurzen, aber vollkommenen Tanz. Damals waren sie beide Ende dreißig. Als sie nun daran zurückdachte, fiel ihr auf, wie jung sie damals gewesen waren. Jetzt fühlte sie sich so gebrechlich, so alt und allein. Sie fragte sich, was hätte sein können, wenn sie zusammengeblieben wären, wie anders ihrer beider Leben hätte verlaufen können. Irgendwo hatte sie immer noch sein mechanisches Klavier. Er war nie zurückgekommen, um es zu holen.
Erinnerungen aus dem letzten halben Jahrhundert verschmolzen mit dem Weiß des Zimmers und ließen den freien Raum in ihr endlos weit erscheinen. Während das Läuten der Glocken verklang, glitt sie langsam in den Schlaf hinüber.
Eine Stunde später schreckte sie abrupt wieder hoch. Es war, als dringe eine Blase in ihren Magen. Schmerz füllte ihre gesamte Brust aus.
»Mach das Fenster auf!«, schrie sie Céline, ihrem Dienstmädchen, zu. »Ich bekomme keine Luft! Ich bekomme keine Luft!« Als ihr Blick auf die Ikone auf dem Nachttisch fiel, folgte sie dem plötzlichen Impuls, sich zu bekreuzigen. Bilder zuckten
vor ihrem inneren Auge vorbei: jener erste Abend im Théâtre des Champs-Elysées, der Strauß Narzissen, den er ihr zum Zoo mitgebracht hatte, der perlmuttschimmernde Knopf, den sie wieder an sein Hemd angenäht hatte, die Nacht des Unwetters, als sie in seine Arme fiel, ihre Hände, die lautlos über die Klaviertasten glitten, die gemeinsamen sonnigen Spaziergänge im Wald, der Tanz auf den Tischen im Le Bœuf sur le Toit und die Papageien, die sie mit ihrem Geschrei alle wahnsinnig machten.
Die Bilder verdichteten sich in halluzinatorischer Deutlichkeit. Sie glaubte, ferne Musik zu hören: die konvulsivischen Zuckungen eines Körpers am Klavier, eine schemenhafte Harmonie. Sie fing die Melodie auf und folgte ihr durch die miteinander verbundenen Räume ihrer Sinne. Und im Traumbild ihrer plötzlichen Erinnerungen sah sie wieder sein Gesicht, wenn er sich vorbeugte, um sie zu küssen, erinnerte sich deutlich an seine dunklen Augen.
Der Schmerz legte sich wie ein eisernes Band um ihre Brust, schoss wie ein Pfeil in ihre Arme.
Sie hörte, wie Céline beruhigend auf sie einsprach, und sah, wie sie nach einer Spritze griff. Mühsam hob sie den Kopf vom Kissen. Ihr Körper bäumte sich auf und sackte wieder zurück. Sie spürte, wie sich etwas fest um sie schloss. Der Geruch von Lilien stieg ihr in die Nase. Eine einzelne schillernde Träne bildete sich in ihrem Auge.
Dann wurde alles schwarz.
Jenseits des Ozeans, in New York, stand Igor gerade auf. Er spürte einen Schmerz, als hätte eine seiner Rippen aufgeschrien. Ein dumpfes Pochen blieb zurück, als er die Füße auf den Boden stellte und sich aufrichtete. Er streckte die Arme, um es zu vertreiben. Dann zog er sich an und befreite ein neues Hemd von seiner knittrigen Zellophanhülle. Er
spürte, wie sich die Härchen auf seinen Handrücken durch die leichte statische Aufladung aufrichteten. Er zog das Seidenpapier heraus, entfernte die gebleichte Kartonstütze und löste den durchsichtigen Plastikhalter aus dem Kragen. Dann zog er die Stecknadeln aus Schultern und Rücken. Auf der linken Brust war eine Tasche aufgesetzt. Schließlich öffnete er ein, zwei Knöpfe am Hals und zog sich das Hemd über den Kopf. Nach einem kurzen Moment der Panik, in dem er zu ersticken glaubte, gelangte sein Kopf durch die Halsöffnung wieder ins Freie. Er hob die Arme, als wollte er losfliegen.
In Paris kroch der Staubsauger in riesigen Bögen durch das Foyer. Die Drehtür des Hotels wirbelte im Uhrzeigersinn um ihre Achse. Bürsten am oberen und unteren Rand strichen gegen den Fußboden und die Decke und hielten die kalte Luft draußen.
Eine kurze Chronologie
1882
17. Juni. Igor Strawinsky wird in Oranienbaum in der Nähe von Sankt Petersburg geboren, wo sein Vater als erster Bassist an der Kaiserlichen Oper singt. Die Familie lebt am Rande der höfischen Gesellschaft.
1883
19. August. Gabrielle Chanel wird in einem Armenhospital in Saumur geboren. Ihre Eltern sind nicht
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