Coco Chanel & Igor Strawinsky
Kopf. Dann fordert sie ihn auf, sich auszuziehen, und lässt ihm ein heißes Bad ein. Er zögert, doch als er sieht, dass sie es ernst meint, legt er schüchtern seine Kleider ab. In der Wanne erscheinen seine Arme und Beine vom Wasser gekrümmt. Sie wäscht ihn wie ein Kind, während er verlegen daliegt.
»Es tut mir leid«, presst er hervor. »Ich schäme mich so.« Wie ein von der Feuchtigkeit verstimmtes Instrument klingt seine Stimme einen halben Ton höher als sonst.
»Schon gut.«
»Ich habe mein Morgenpensum verpasst.«
»Ja, das hast du offensichtlich.«
Sie wäscht sein Gesicht und drückt einen Schwamm über seinem Kopf aus. Das Wasser rinnt wohltuend über seine Kopfhaut und an seinen Wangen herab.
»Du bist sehr nett«, sagt er. »Das meine ich ernst.«
Sie streicht seine Augenbrauen glatt. »Wie fühlst du dich jetzt?«
»Schon etwas besser.«
Aber er fühlt sich grauenvoll. Er findet es schrecklich, dass sie ihn so sieht, es ist demütigend. Nicht zum ersten Mal fühlt er sich wertlos. Er steigt aus der Wanne und knotet sich schamhaft ein Handtuch um die Hüfte. Als er sich abgetrocknet hat, geht er auf Coco zu. Liebevoll umarmen sie einander. Sie geben einem kindlichen Drang nach und legen ihre Stirn aneinander. Ihre Finger verschränken sich. Immer noch feucht vom Bad, spürt er, wie seine Hände an ihren haften.
»Du hast jedes Recht, mich zu hassen«, sagt er.
»Ich könnte dich niemals hassen.«
Ihr wird bewusst, dass sie froh darüber ist, jetzt hier bei ihm zu sein. Sie genießen die Gegenwart des anderen mit der Zärtlichkeit zweier Liebender, die sich mit dem Verlust abgefunden haben.
»Weißt du was?«, fragt er. »Ich habe dir das nie gesagt, aber du riechst wundervoll.«
Nach einem letzten Druck lassen sie langsam ihre Finger auseinandergleiten.
»Glaub nicht, dass ich bereue, was passiert ist. Nichts davon«, sagt er.
Dankbar legt er sich wieder zurück aufs Bett. Coco winkt zum Abschied mit den Fingern, dann wirft sie ihm eine Kusshand zu und schließt die Tür.
Kapitel 31
MIT DEM TAKTSTOCK in der Hand betritt Igor das Podest, um für die Wiederaufführung des Sacre zu proben. Ein Taschentuch bauscht sich aus seiner Jacketttasche, und ein Schnurrbart ziert seine Oberlippe. Seine Brille hat keine Bügel, sondern hält nur dank des Drucks der Stegplättchen.
Auf seinen Wink hin macht sich das Orchester bereit. Seine Augen verengen sich zu Schlitzen, und sein Mund öffnet sich leicht. Dann beginnt er mit der linken Hand den Takt zu schlagen und beschwört mit der rechten die Musik herauf. Sechs trostlose Töne wehen vom Fagott herüber. Gequält regen sich die übrigen Holzblasinstrumente. Die ersten Geigen kratzen eine Antwort, die Flöten zwitschern nervös. Schließlich brechen wütend die zweiten Hörner herein, gefolgt von unvermittelten Eruptionen des Blechs und der Streicher.
Igors Finger versteifen sich, um einen schnelleren Rhythmus anzuzeigen, während seine Hände die Luft durchschneiden. Dann entspannen sie sich wieder und gebieten ruhigere Harmonien. Indem er einzelne Instrumente hervorhebt, schafft er hier einen Akzent, da eine sanfte Stimmung. Die Art, wie er die Musiker mit einem Blick auswählt und diese auf seine Blicke reagieren, erzeugt einen verstohlenen Wettstreit um seine Aufmerksamkeit. Er bemüht sich, diese seltene Aufmerksamkeit auszuschöpfen, während er gleichzeitig versucht, die einzelnen Fragmente zu einem Ganzen zu verweben.
Plötzlich bildet sich eine Falte auf seiner Stirn. Etwas fehlt. Er lässt den Taktstock sinken, klopft verärgert auf das Notenpult und lässt das Orchester anhalten. Er wendet sich an den Paukisten, der freundlich unter seinem blonden Haar hervorlächelt. »In dieser Passage steht fortissimo !«, brüllt er ihn an.
Würdevoll verlässt er das Podest und geht zum Klavier. Der Saal, in dem sie proben, ist nicht ausreichend geheizt, und seine Schritte hallen laut in der kalten Luft. Stehend spielt er ein paar kraftvolle Takte zur Illustration. »Hören Sie das?«
Die Paukenschlägel immer noch in der Hand, errötet der Mann vor Scham.
Nachdem Igor auf das Podest zurückgekehrt ist, nimmt er das Stück ein paar Takte vor der beanstandeten Passage wieder auf. Er nickt zustimmend, als der Paukist auf die energischen Hiebe des Taktstocks reagiert.
Dann schließt er die Augen und lauscht. Er braucht nicht länger in die Partitur zu schauen, sondern dirigiert blind, er kennt die Musik auswendig. Er spürt ihre jähen
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