1256 - Belials Bann
Durch das Kind war sie in den feinstofflichen Zustand geraten und eben mit diesen verfluchten Schmerzen konfrontiert worden. Es konnten keine normalen Schmerzen sein, mehr Phantomschmerzen, und trotzdem waren sie genau zu spüren.
Sie würde ihre Feinstofflichkeit verlieren. Sie war auf dem Weg, wieder zu einem normalen Menschen zu werden. Sie glitt durch eine Zwischenwelt, sie wurde transportiert und würde erst wieder normal werden, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.
Der Ausgang war das Ziel!
In ihn würde sie hineingleiten, denn nur dort würde es ihr gelingen, alle Kräfte wieder so zu konzentrieren, dass aus ihr ein normaler Mensch wurde.
Plötzlich war sie da!
Zuletzt hatte sie noch so etwas wie einen Schlag gespürt, der ihr gegen den Rücken geprallt war.
Dann konnte sie das Tor durchschreiten und merkte auf der Stelle, dass sie die andere Umgebung erreicht hatte. Eine Sphäre, die sie kannte, obwohl sie einer anderen Welt oder Dimension angehörte.
Auch in sie hinein passte das Geschöpf, das so außergewöhnlich war und auf den Namen Tamara hörte.
Noch einmal krümmte sie sich, als hätte sie einen letzten Stoß erhalten. Sie beugte sich vor, sie presste ihre Hände gegen den Leib - und fing sich wieder, denn mit einem heftigen Ruck richtete sie sich auf und blieb stehen. Das Zimmer, in dem sie sich aufhielt, war leer. Es gab keine Einrichtungsgegenstände darin, bis auf einen breiten Spiegel, der an einer Querwand hing.
Tamara legte den Kopf zurück. Sie fuhr durch ihr hellblondes Haar, ließ die Locken durch die Lücken ihrer Finger gleiten und hatte den Eindruck, eine elektrische Ladung der Haare zu erleben.
Sie hatte es geschafft. Sie war wieder da. Der feinstoffliche Zustand war verschwunden, sie konnte sich wieder als Mensch fühlen, aber sie merkte schon den Verlust an Energie und Kraft. Es fiel ihr nicht leicht, sich auf den Beinen zu halten, denn sie musste sich erst erholen. Tamara ging auf eine Zimmerecke zu und ließ sich dort nieder. Mit angezogenen Knien hockte sie auf dem Boden. Der Blick war ins Leere gerichtet und trotz ihrer Erschöpfung gab sie noch immer das Bild einer schönen jungen Frau ab. Sie sah so aus, wie sich mancher Mensch einen Engel vorstellt, und als Engel wollte sich Tamara auch sehen, denn sie spürte auch den Druck der Flügel auf ihrem Rücken, die allerdings waren zusammengefaltet wie zwei Fächer und in diesem Fall keine Hilfe.
Bis auf einen hüftlangen Rock war sie nackt. Aber um ihren Hals hing ein Schal der besonderen Art.
Eng geschlungen am Hals, doch als breiter Schal vor ihrem Körper herabhängend. Er hörte erst dort auf, wo sich der Bauchnabel abmalte.
Der Schal war etwas Besonderes. Auf seinem Material malten sich helle Totenschädel ab, die im Moment einiges von ihrer Farbe verloren hatten und grau aussahen. Auch in den ansonsten kristallklaren Augen hatte sich der Ausdruck verändert. Der Blick wirkte jetzt müde, wie der einer Verliererin. Die Erschöpfung zeigte sich auch hier.
So etwas hatte Tamara noch nie erlebt. Bei keiner ihrer Heilungen. Sie hatte sich die anschließende Beute immer geholt und ihre verlorene Energie aufgeladen.
Nur jetzt nicht. Nicht an diesem verdammten Tag. Da fühlte sie sich so matt wie nie. Und nur weil dieses Balg gebetet hatte!
Tamara hasste Gebete. Es war nichts für sie. Jedes Wort, das die Kleine hervorgebracht hatte, empfand sie als das reine Gift. Es hatte sie auf schlimme Art und Weise geschwächt und jetzt war sie froh, sich in die beiden Zimmer ihrer kleinen Wohnung zurückziehen zu können. Sie hatte verloren, sie schämte sich deswegen und stieß leise, schrille Wutschreie aus, ohne jedoch etwas ändern zu können.
Nach einer Weile sah sie ein, dass es auch nichts brachte, wenn sie auf dem Boden hockte und abwartete. Sie musste etwas tun, und sie stemmte sich mit einem Ruck in die Höhe. Dabei traute sie sich nicht, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Da sich kein anderer Gegenstand in diesem Zimmer befand, war er beherrschend und wirkte größer als er es tatsächlich war. Er sah auch nicht normal aus. In seiner Fläche konnte sich ein Mensch kaum sehen, weil sie einfach nicht strahlte und zu grau war. Aber dieser Spiegel war das Wichtigste in ihrer Wohnung. Er war der Weg zu ihm, und vor ihm hatte sie Angst.
Rasch lief sie daran vorbei und stieß die Tür zum Nebenraum auf. Hier sah es anders aus. Man konnte von einem gepflegten Durcheinander sprechen. Die alte Couch diente zugleich als Bett.
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