Cocoon, Band 01
Lebensstil verlieren. Einige meiner Klassenkameradinnen sehen in dieser Phase genauso schön wie meine Mutter aus – delikat und hellhäutig. Ich bin zu blass. Meine Haut sieht im Kontrast zu meinem erdbeerroten Haar ausgewaschen aus. Wenn ich so leuchtendes Haar wie meine Mutter hätte, oder goldenes wie das von Amie. Aber meins ist glanzlos wie eine schmutzige Münze.
»Deine Mutter hat ein besonderes Abendessen für uns gekocht«, wirft mein Vater ein. Sein Tonfall ist freundlich, aber ich weiß, was er mir sagen will: Ich verschwende Essen.
Ich fühle mich schuldig, als ich auf die Kartoffeln und den vertrockneten Schmorbraten starre. Vermutlich sind zwei ganze Abendrationen in dieses Essen gewandert, und dann ist da auch noch der Kuchen.
Es ist ein großer Kuchen mit Zuckerguss. Er kommt aus einer Konditorei. Die kleinen Kuchen, die meine Mutter uns sonst immer zum Geburtstag backt, kommen bei Weitem nicht an dieses kunstvolle weiße, mit zuckrigen Blumen und Rüschen versehene Gebilde heran. Zweifellos hat es uns eine weitere halbe Wochenration gekostet, und wahrscheinlich werden sie ihn nun den Rest der Woche zum Frühstück essen, bis die nächsten Rationen ausgeteilt werden. Der Anblick der zarten weißen Bordüren an den Kuchenrändern dreht mir den Magen um. Ich bin Süßigkeiten nicht gewohnt, und Hunger habe ich sowieso nicht. Ein paar Happen Fleisch kriege ich mit Mühe und Not herunter.
»Genau so einen Kuchen will ich zu meinem Geburtstag«, sprudelt es aus Amie hervor. Sie hat noch niemals vorher einen Konditoreikuchen gegessen. Als Amie heute aus der Akademie nach Hause kam und den hier sah, sagte meine Mutter, sie könne einen zu ihrem nächsten Geburtstag haben. Eine große Sache für ein Mädchen, das sein ganzes Leben lang nur die abgelegten Sachen seiner älteren Schwester getragen hat. Offenbar will meine Mutter ihr den Übergang in das Training möglichst angenehm gestalten.
»Er wird wohl ein bisschen kleiner sein müssen«, erinnert Mama sie, »und du bekommst nichts von diesem hier, wenn du nicht erst dein Abendessen isst.«
Unwillkürlich grinse ich, als Amie die Augen aufreißt und anfängt, Essen in sich hineinzuschaufeln. Sie schluckt schwer an den großen Bissen. Mama nennt sie »eine Esserin«. Ich wünschte, ich könnte so essen wie sie, wenn ich aufgeregt, angespannt oder traurig bin. Aber Aufregung tötet meinen Appetit, und die Tatsache, dass dies das letzte Abendessen ist, das ich jemals mit meiner Familie einnehmen werde, hilft auch nicht.
»Hast du das für Adelice gekauft?«, fragt Amie zwischen den Bissen, sodass man dabei das zerkaute Essen sehen kann.
»Mach den Mund zu, wenn du isst«, sagt mein Vater, aber ich sehe, dass seine Mundwinkel belustigt zucken.
»Ja, Adelice verdient heute was Besonderes.« Die Stimme meiner Mutter ist ruhig, aber ihr Gesicht strahlt, und ein leises Lächeln umspielt ihre Lippen. »Das wollte ich gern feiern.«
»Die Schwester von Marfa Crossix ist letzte Woche heulend von ihren Prüfungen zurückgekommen und hat seitdem ihr Zimmer nicht mehr verlassen«, erzählt Amie nach dem Schlucken weiter. »Marfa hat gesagt, es wäre, als ob jemand gestorben sei. Alle sind so traurig. Ihre Eltern machen schon Kennenlern-Termine aus, um sie aufzuheitern. Sie hat einen Termin mit so ziemlich jedem Jungen in Romen, der für eine Hochzeit infrage kommt.«
Amie lacht, doch wir anderen verstummen. Ich starre auf die verschnörkelte Kuchenbordüre und versuche, das Muster zu erkennen. Vom stillen Widerstand meiner Eltern gegen die Heiratsgesetze und das von der Gilde vorgegebene Kurrikulum ahnt Amie nichts, aber ihr gegenüber waren sie auch nicht offen. Ich dagegen bin alt genug, um zu verstehen, warum sie nicht wollen, dass ich eine Webjungfer werde. Aber auch vor mir passen sie immer auf, was sie sagen.
Mein Vater räuspert sich und sieht meine Mutter Hilfe suchend an. »Manche Mädchen wollen wirklich gern in den Konvent. Marfas Schwester muss enttäuscht sein.«
»Das wäre ich auch«, trällert Amie und schaufelt sich eine Gabel Kartoffeln in den Mund. »Sie haben uns an der Akademie Bilder gezeigt. Webjungfern sind so schön, und sie haben alles.«
»Da hast du wohl recht«, murmelt Mama und schneidet mit präzisen Schnitten ihr Fleisch in kleine Stückchen.
»Ich freue mich so auf die Prüfungen.« Als Amy verträumt seufzt, schaut meine Mutter sie finster an, doch Amie ist zu hingerissen, um es zu bemerken.
»Diesen Mädchen geht es
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