Cocoon, Band 01
ich durch die kalte Erde krieche.
Geh weiter.
Das sage ich mir immer wieder, denn ich fürchte, dass die Angst mich lähmt, wenn ich innehalte. Irgendwie gehe ich weiter, immer weiter in die Dunkelheit, bis kalter Stahl mein Bein umklammert. Ich schreie, als ich zurückgezerrt werde – zurück zum Licht und zu den Männern mit den Stiefeln, zurück zur Gilde. Ich versuche, mich in den festgetretenen Tunnelboden zu krallen, aber die Klaue ist stärker, und jeder verzweifelte Tritt in Richtung Dunkelheit treibt den Stahl tiefer in meine Fesseln.
Man kann sich nicht gegen sie wehren.
ZWEI
A ls sie mich aus dem Fluchttunnel herausziehen, steckt mir jemand eine Nadel in mein verwundetes Bein. Ich trete um mich, während ich das Brennen der Flüssigkeit in meinem Unterschenkel spüre, doch mit einem Mal werde ich ganz ruhig. Wieder zurück im feuchten Keller, hilft einer der Uniformierten mir auf, und ich lächle ihn an. Noch nie war ich glücklicher.
»Flick das zusammen!«, blafft jemand, der die Kellertreppe herunterkommt. Im Gegensatz zu den anderen trägt er keine Soldatenkluft. Er ist älter und sieht sehr gut aus. Sein Kinn ist glatt und ebenmäßig – zu ebenmäßig, um natürlich zu sein – , aber die feinen weißen Strähnchen in seinem Haar verraten sein wahres Alter. Nase, Augen und Zähne sind zu perfekt, und ich bin mir sicher, dass er Erneuerungspflaster verwendet. Er hat die Art von Gesicht, die man bei Nachrichtensprechern im Stream sieht. Während ein Arzt die Wunde reinigt, die die Stahlklaue gerissen hat, blinzle ich verträumt. Hinter den Beamten taucht eine Gruppe Frauen auf, die geschäftig damit beginnen, mir das Gesicht zu waschen und die Haare zu kämmen. Es fühlt sich so gut an, dass ich am liebsten einschlafen würde. Das Einzige, das mich wach hält, ist der kalte, raue Zement unter meinen nackten Füßen. Im Handgemenge habe ich meine Schuhe verloren.
»Du hast ihr zu viel gegeben«, brummt der gut aussehende Mann, der wahrscheinlich ein hoher Beamter ist. »Ich habe gesagt, ihr sollt sie für den Stream zurechtmachen, nicht, dass ihr sie völlig wegschießen sollt.«
»Tut mir leid. Sie hat sich wirklich gewehrt«, antwortet einer der Uniformierten. Man hört, dass er das sehr witzig findet.
»Bring das in Ordnung.«
Im nächsten Moment sticht man mir eine zweite Nadel in den Arm, und mein Lächeln verblasst. Ich bin immer noch ruhig, aber das Glücksgefühl lässt nach.
»Adelice Lewys?« Ich beantworte die Frage des Gutaussehenden mit einem Nicken. »Begreifst du, was los ist?«
Ich will »Ja« sagen, bringe aber keinen Ton heraus, also nicke ich erneut.
»Oben ist ein Stream-Team und auch eure halbe Nachbarschaft. Ich würde es vorziehen, wenn wir dich nicht wie ein loses Ende mitschleifen müssen, aber wenn du noch einmal so etwas versuchst, lasse ich dir die nächste Spritze verpassen. Verstehst du mich?« Er deutet auf den Arzt, der anscheinend mit der Versorgung meiner Verletzung fertig ist.
Mit Mühe bringe ich ein »Ja« heraus.
»Braves Mädchen.« Er deutet auf den Fluchttunnel. »Darum werden wir uns später kümmern. Deine Aufgabe ist es jetzt, zu lächeln und begeistert auszusehen, weil du berufen wurdest. Schaffst du das?«
Ich glotze ihn an.
Er seufzt und schüttelt den Kopf, um das winzige Komplant über seinem linken Ohr zu aktivieren. Dieses Gerät verbindet den Nutzer automatisch mit anderen Komplant-Benutzern, oder auch mit einer in die Wand eingebauten Komkonsole. Ich habe in der Metro Leute bei Unterhaltungen über die Konsole beobachtet. Mein Vater hat als Mechaniker allerdings nicht das Privileg eines solchen Implantats. Kurz darauf kann ich die einseitige Unterhaltung belauschen.
»Hannox, hast du sie? Nein, halte sie fest.« Er dreht sich zu mir um und deutet auf das Loch, in dem meine Mutter und Amie verschwunden sind. »Tun wir so, als ob mein Kollege jemanden in Gewahrsam hätte, den du sehr lieb hast, und als ob es von deinem Auftritt im Stream abhinge, ob diese Person lebt oder stirbt. Kannst du jetzt begeistert aussehen?«
Ich lächle ihn so strahlend wie möglich an.
»Nicht schlecht, Adelice.« Aber dann runzelt er die Stirn. »Seid ihr bescheuert? Das ist eine Einberufung. Sie darf nicht geschminkt sein!«
Während er den Anästhesisten beschimpft, schaue ich mich nach meinem Vater um. Er ist nirgends zu sehen, und beim Absuchen der Wände kann ich keine weiteren Ritzen finden, hinter denen ein Fluchttunnel verborgen sein könnte.
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