Cocoon, Band 01
entschlossenem Nicken. »Wenigstens kannst du so in Romen bleiben. Bei mir.«
Ich würde gern so tun, als ob sie recht hätte und dem Geplapper der Zwölfjährigen lauschen, anstatt dem, was mich erwartet, ins Gesicht zu sehen. Ich werde den Rest meines Lebens eine Webjungfer sein, aber nur noch eine Nacht lang ihre Schwester. Ich sage an den richtigen Stellen »Oh« und »Ah«, damit sie glaubt, dass ich zuhöre. Ich stelle mir vor, dass mein Interesse sie aufbaut und stärkt, sodass sie, wenn ich weg bin, nicht ihr ganzes Leben mit der Suche nach Aufmerksamkeit verschwendet.
Amies Unterricht ist zur selben Zeit zu Ende wie die Tagesschicht in der Metro, weshalb Mama bei unserer Ankunft schon zu Hause ist. Sie sitzt in der Küche, und ihr Kopf zuckt hoch, als wir eintreten. Ihr Blick sucht meinen. Ich atme durch und schüttle den Kopf, und sie lässt erleichtert ihre vor Anspannung hochgezogenen Schultern sacken. Ich lasse mich von ihr so lange im Arm halten, wie sie will, die Umarmung erfüllt mich mit Liebe. Deshalb sage ich ihnen nicht die Wahrheit. Ich will mich an ihre Liebe erinnern, nicht an ihre Aufregung oder Sorge.
Mama streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, doch sie lächelt nicht. Zwar glaubt sie, dass ich bei den Prüfungen durchgefallen bin, aber sie weiß, dass meine Zeit hier trotzdem fast abgelaufen ist. Man wird mir bald eine Rolle zuteilen und mich kurz danach verheiraten, selbst wenn man mich nicht fortbringt. Welchen Sinn hätte es, ihr zu sagen, dass sie mich noch heute Nacht verlieren wird? Es ist im Moment nicht wichtig, und dieser Moment ist es, worauf es ankommt.
Es ist ein ganz normaler Abend an unserem ganz normalen Tisch, und außer dem etwas übergarten Schmorbraten – Mamas Spezialität für ganz besondere Anlässe – ist nicht viel anders als sonst, zumindest nicht für meine Familie. Die Standuhr tickt im Flur, draußen zirpen Zikaden, ein Motopakt rumpelt unten auf der Straße, und die Dämmerung wird schon bald der Nacht weichen. Es ist ein Abend wie hundert andere, aber heute werde ich nicht im Schutz der Dunkelheit zum Zimmer meiner Eltern schleichen. Das Ende der Prüfungen bedeutet auch das Ende des Trainings.
Ich wohne mit meinen Eltern in einem kleinen Vororthäuschen am Rande von Romen. Hier hat man ihnen zwei Kinder und ein angemessen großes Haus zugewiesen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie sich für ein weiteres Kind bewarben, als ich acht war – also bevor sie die Gabe bei mir entdeckten – , das jedoch nicht bewilligt wurde. Die hohen Versorgungskosten für jeden einzelnen Menschen erfordern, dass die Gilde die Bevölkerung reguliert. All dies erklärte meine Mutter mir eines Morgens ganz beiläufig, während sie ihre Haare für die Arbeit hochsteckte. Ich hatte mir einen Bruder gewünscht. Sie warteten, bis ich älter war, um mir klarzumachen, dass das aufgrund der Geschlechtertrennung ohnehin unmöglich gewesen wäre, aber trotzdem fühlte ich mich gedemütigt. Ich stochere in meinem Essen herum. Es wäre alles viel einfacher, wenn ich ein Junge wäre, oder wenn meine Schwester ein Junge wäre. Ich wette, dass meine Eltern auch lieber Jungs gehabt hätten. Dann müssten sie sich keine Sorgen machen, dass man uns ihnen wegnehmen könnte.
»Adelice«, sagt meine Mutter ruhig, »du isst gar nichts. Die Prüfung ist vorbei. Ich dachte, da hättest du etwas mehr Appetit.«
Sie ist sehr gut darin, äußerlich ruhig zu wirken. Aber manchmal frage ich mich, ob die Schminke, die sie Schicht für Schicht aufträgt, bis ihre Wangen seidig rosa schimmern und ihre Lippen glänzen, nur ein Trick ist, um ihr inneres Gleichgewicht zu wahren. Bei ihr sieht das alles ganz leicht aus – die Kosmetik, das perfekt frisierte dunkelrote Haar und das Businesskostüm. Äußerlich ist sie genau das, was man von einer Frau erwartet: schön, gepflegt, folgsam. Ich wusste nicht, dass sie noch eine andere Seite hat, bis ich elf war. Das war das Jahr, in dem sie und mein Vater begannen, meinen Fingern das Versagen anzutrainieren.
»Alles okay.« Meine Stimme klingt ausdruckslos und wenig überzeugend, und ich wünsche mir ein perfekt angemaltes Gesicht, um mich dahinter zu verstecken. Von Mädchen erwartet man, dass sie rein und natürlich bleiben – körperlich und in ihrem Erscheinungsbild –, bis sie offiziell aus dem Prüfverfahren entlassen werden. Reinheitsstandards sollen sicherstellen, dass Mädchen, die weben können, diese Gabe nicht durch einen promisken
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