Code Freebird
Jakarta. Dummheit war und ist schon immer global gewesen.
Eine neueingehende E-Mail riss Levy aus seinen Gedanken. Sie stammte von Naima. Sie hatte sich in der arabisch-muslimischen Szene umgehört und eine erstaunliche, aber offiziell nicht bestätigte Information erhalten. Ein ehemaliger Dolmetscher, der Kevin Raab in den Neunzigern bei dessen archäologischen Ausgrabungen im Irak begleitet hatte, erhob schwere Vorwürfe gegen ihn. Raab habe seine Kontakte zu irakischen Behörden und Politikern im Laufe der Jahre bei den Nachrichtendiensten versilbert. Darunter fielen nicht nur der BND, sondern in den vergangenen Jahren auch die CIA.
Was den Dolmetscher erzürnte, soll der Umstand gewesen sein, dass Raab im Vorfeld des Irakkrieges Standortdaten zu Einrichtungen der Baath-Partei und Saddams Republikanischen Garden direkt aus Bagdad an die Amerikaner geliefert haben soll. Unverlässlich, ungenau und korrupt, wie Raab selbst gewesen sein soll, waren auch dessen Informationen. Er, der Dolmetscher, mache ihn für den Tod zahlreicher Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, verantwortlich, die bei den ersten Raketenangriffen auf Bagdad getötet wurden. Raab stünde auf einer Liste der zu bestrafenden Personen ganz weit oben. Um welche Art von Liste es sich dabei handelte und wer sie führte, konnte oder wollte er nicht sagen.
Nur so viel: Shamal, der heilige Wüstensturm, sei entfacht, um den Dajjal zu blenden und ihn unter sich zu begraben.
Was ist der Dajjal, fragte sich Levy. Naima hatte dazu keine weiteren Angaben gemacht.
Levy gab den Begriff in eine Suchmaschine ein. Er fand:
Dajjal (sprich: Dadschal), der Antichrist oder Masih al-Dajjal, der falsche Messias. Gemeinsam mit dem Mahdi, einer anderen islamischen Endzeitgestalt, wird er die Welt bis kurz vor ihrem Untergang regieren. Der Dajjal sei ein Lügner und Verführer, den man mit allen Mitteln bekämpfen müsse. In der Jetztzeit trete die gesamte westliche Zivilisation, besonders aber Amerika, als falscher Messias auf, der um des Erdöls willen lüge, betrüge und töte.
Die religiöse Mythologie musste also wieder herhalten, dachte Levy, um das Vorhaben zu legalisieren. Anders wäre die Tötung eines oder mehrerer Menschen auch im Islam nicht zu rechtfertigen.
Auf jeden Fall gab es nun ein mögliches Motiv, um Kevin Raab zu töten. Wenn es zutraf, was der Informant über ihn gesagt hatte, dann war er für den Tod von Zivilisten, Frauen und Kindern verantwortlich. Nun, während Kriegshandlungen war das nichts Außergewöhnliches. Die Amerikaner sprachen von Kollateralschäden, ein teuflischer Euphemismus dafür, das Töten Unschuldiger zumindest billigend in Kauf zu nehmen. Doch in den letzten beiden Kriegen, die die USA geführt hatten, war ein weiterer Begriff in das Beschönigen von Kollateralschäden beziehungsweise deren Vermeidung eingezogen: die chirurgisch genauen, lasergesteuerten Präzisionswaffen, die sich in vielen Fällen doch nicht als so zielgenau wie behauptet herausgestellt hatten.
Im Fall von Kevin Raabs Ermordung könnte so das Denkmuster des oder der Verantwortlichen ausgesehen haben.
Wenn sich Levy die Tatortfotos, die Berichte der Gerichtsmedizin und des Labors in Erinnerung rief, dann war Raab nach dieser Philosophie getötet worden. Er saß in einem Kino, um ihn herum andere, unschuldige Menschen. Der Sprengsatz war so konzipiert, dass er nur Raab tötete, selbst wenn in fast unmittelbarer Nähe noch jemand gesessen hätte. Das war ein präziser, chirurgisch genau durchgeführter Anschlag auf jemanden, der sich schuldig gemacht hatte.
Doch wozu ein Sprengsatz? Hätte es nicht Gift oder eine Kugel genauso getan?, fragte sich Levy.
Nein, eben nicht, antwortete er. Damit wäre die Logik des Anschlags und des Täters aufgehoben. Raab musste genau so sterben wie die Menschen, die er als Ziel für die amerikanischen Bomben ausgesucht hatte.
Allerdings wurde seine Hinrichtung tatsächlich von einem Profi, einem Chirurgen des Bombenbaus, ausgeführt. Mission accomplished – Auftrag ausgeführt!
War das das Muster?
Levy musste mehr wissen. Er schrieb Michaelis eine Mail: Benötige nun dringend ausführliche Hintergrundinformationen zu den getöteten Opfern. Wie weit seid ihr?
Doch wie viel würde sie in Erfahrung bringen? Die beiden Getöteten waren ausländische Bürger, die nach bisherigem Ermittlungsstand zufällig getötet worden waren. Wenn sich mehr hinter ihnen verbarg, so endete ihr Einfluss bei der amerikanischen
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