Code Freebird
grünbraunen Schlieren an Levy vorüber. Das rhythmische ta-tong der Schienenstränge übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus, und er hatte ein Abteil für sich allein. Er war seit sechs Uhr morgens unterwegs. Die Fahrt zwischen Mannheim und Grafenwöhr sollte abenteuerliche sechseinhalb Stunden dauern mit fünfmaligem Umsteigen. Es war eine Reise durch drei Bundesländer – Baden-Württemberg, Hessen und Bayern. Er würde auf dieser Fahrt Zeit und Ruhe finden, um alle bisherigen Ermittlungsergebnisse zu ordnen und erste Rückschlüsse daraus zu ziehen. Es war höchste Zeit.
Levy hatte Michaelis eine kurze Nachricht unter der Tür durchgeschoben, dass er ins Lager Grafenwöhr fahren würde, um eine Information zu überprüfen, die ihm Colonel Nimrod gegeben hatte. Worum es genau dabei ging, wollte er ihr nach seiner Rückkehr mitteilen. Er bat sie auch, Demandt von seinem Ausflug nichts zu sagen. Das Misstrauen Nimrods dem BKA gegenüber hatte ihn angesteckt, insbesondere nach der Haltung, die Demandt in der nächtlichen Diskussion eingenommen hatte.
Sein Handy war abgeschaltet und würde es für die nächste Zeit auch bleiben. Er brauchte Ruhe. Wenn er eine Information benötigte, würde sein Notebook einen Kommunikationskanal hinaus in die Welt öffnen. Denn endlich hatte auch die Bahn zahlreiche WLAN-Anschlüsse in ihren Zügen eingerichtet. Zugang zum Internet war auf Reisen somit keine Schwierigkeit mehr.
Kaum hatte er jedoch seine Mailbox abgefragt, bereute er es auch schon wieder. Michaelis beschwerte sich über seine nicht abgesprochene Abreise zum Truppenübungsplatz nach Grafenwöhr. Wie wolle man zusammenarbeiten, wenn man sich nicht auf den anderen verlassen konnte. Da sie vor Ort nichts weiter tun könne, reise sie nach Hamburg zurück.
Nun, das musste sie aushalten können, sagte sich Levy. Schließlich war man nicht verheiratet.
Dann eine Mail von Falk. Er hatte mit Vogelsang, dem Professor an der Uni Tel Aviv, telefoniert. Die Studie über die fünfzig Täterprofile könne er zwar nicht zur Verfügung stellen, aber er wäre zu einem persönlichen Gespräch bereit. Zurzeit befände er sich in Hamburg, wo seine Familie noch ein Haus besaß. Er stellte einen Termin am folgenden Tag in Aussicht.
Levy bestätigte den Termin. Das kam ihm sehr gelegen. Besser eine Stunde sprechen, als tagelang über wissenschaftlichen Studien zu brüten.
Ferner hatte Falk neue Informationen zum verdächtigten Promoter. Die Fingerabdrücke einer rechten Hand, die auf der Tüte gefunden wurden, wiesen ein sonderbares Muster auf. Und zwar seien die Papillarleisten an den Fingerspitzen seltsam diffus. Sie könnten von einer kürzlich erlittenen Verätzung stammen, was den Abgleich mit den rund drei Millionen erfassten Abdrücken in der Datenbank des BKA deutlich erschwere. Auch fehle der Abdruck des rechten Ringfingers, was von einer seltsam gespreizten Fingerhaltung beim Fassen der Tüte zeuge. Oder von einem fehlenden Finger.
Naimas Recherche bei den Auftraggebern der Promoter erbrachte ein Ergebnis: Der Mann auf dem Phantombild sei nicht bekannt. Die Fahndung war nach Rücksprache mit dem Innensenator an diesem Morgen herausgegangen. Alle beteiligten Ermittlerteams von BKA, LKAs, Verfassungsschutz und CID seien informiert worden. Am Nachmittag würde eine Pressekonferenz stattfinden, in der der Innensenator die Bevölkerung um Unterstützung bei der Suche bitten würde.
Die Jagd war somit angeblasen, dachte Levy. Ab jetzt würde es achtzig Millionen Sherlock Holmes geben, die die Einsatzgruppen mit neunundneunzig Prozent falschen Hinweisen beschäftigten. Er mochte gar nicht an die rund zehn Prozent denken, die bei derlei Aufrufen Opfer von Verleumdung und Missgunst der Nachbarn, Arbeitskollegen oder Familienmitgliedern wurden. Neid und Hass waren aus der menschlichen Natur einfach nicht rauszukriegen, egal, wie sehr sich Religion und Philosophie über die Jahrhunderte auch bemühten.
Er konnte nur hoffen, dass den deutschen Behörden nicht ein ähnlich tragischer Fehler unterlaufen würde wie seinerzeit in London nach den Terroranschlägen, als ein unschuldig verdächtigter Brasilianer im Kugelhagel der nervösen und schießwütigen Polizisten starb. In diesen Tagen mit dunkler Hautfarbe und arabischem Namen unterwegs zu sein, hieß sich in Todesgefahr zu begeben. In diesem Punkt unterschieden sich die aufgeklärten Westeuropäer nur wenig vom aufgehetzten muslimischen Straßenmob in Damaskus, Teheran oder
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