Codename Merlin - 3
Vielmehr befürchtet man, er könne, wenn er erst einmal die ganze Wahrheit kennt − wenn man ihm den Beweis vorlegt, dass die Kirche fast eintausend Jahre lang ganz Safehold beherrscht hat, durch das größte Lügengebäude in der Geschichte der Menschheit − sich vielleicht nicht zügeln, der ›Vierer-Gruppe‹ genau dies zum Vorwurf zu machen. Und das, Merlin, ist etwas, das wir nicht zulassen dürfen. Noch nicht.
Wir können über eine Kirchenspaltung nachdenken, vor allem, wenn diese Spaltung damit einhergeht, die Korruption einzudämmen, die Dekadenz und den Machtmissbrauch. Aber offene Ketzerei − wahre Ketzerei, die sich leicht durch entsprechende Passagen in der Heiligen Schrift und den Offenbarungen belegen ließe − wäre in Clyntahns Händen eine viel zu gefährliche Waffe. Der Tag wird kommen − er wird kommen! −, an dem diese ›ketzerische Lehre‹ offen verkündet werden wird. Mehr als vier Jahrhunderte lang hat die Bruderschaft von Sankt Zherneau dafür gearbeitet, dass dieser Tag kommen wird. Aber im Augenblick müssen wir dafür sorgen, dass es in diesem Krieg ausschließlich um den Machtmissbrauch durch die Kirche geht. Es geht hier auch um spirituelle Belange, das wohl, aber um spirituelle Belange, die weltliche Herrscher auch in weltliche Begriffe kleiden können, und nicht um Aspekte von Kirchenlehren und Theologie, die nur Zwietracht bringen können.«
Merlin legte die Hände auf die Armlehnen und beugte sich in seinem Sessel vor; seine Miene wirkte sehr angespannt.
»Eure Eminenz, da Ihr und Abt Byrkyt mich über die Existenz dieser Dokumente in Kenntnis gesetzt habt, muss ich doch annehmen, die anderen Brüder, denen die ganze Wahrheit bekannt ist, haben die diesbezügliche Entscheidung gebilligt.«
Sein Tonfall und die gehobene Augenbraue verwandelten die Aussage in eine Frage, und Staynair nickte.
»Das haben sie tatsächlich. Nicht zuletzt, weil wir Euer Urteil darüber hören wollten, ob man davon nun Cayleb berichten solle oder nicht. Ich selbst bin der Ansicht ›ja‹, und ebenso auch die meisten meiner Mitbrüder, wenngleich nicht alle, und uns allen ist bewusst, dass Ihr Ihm im Augenblick näher steht als jeder andere Mensch. Aber ich muss gestehen, dass es noch einen weiteren Grund gibt. Etwas, das in Sankt Zherneaus Brief steht, nicht in seinem Tagebuch.«
»Ach?«
»Ja.« Staynair schob die Hand in eine Innentasche seiner Soutane und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. »Hier ist eine Abschrift des betreffenden Abschnitts«, sagte er leise und reichte ihn Merlin über den Schreibtisch hinweg.
Ein wenig beklommen griff Merlin danach, faltete das Blatt auseinander und bemerkte, dass die Abschrift in Staynairs eigener Handschrift angefertigt worden war.
»Wir und die anderen Adams und Evas, die Dr. Pei über die Wahrheit informiert hat, stellen das dar, was sie als ihre ›Lebensversicherung‹ bezeichnet hat«, las er. »Wir sollten die Saat darstellen, wenn man es so ausdrücken möchte, die Saat einer Bewegung unter den Kolonisten und den Kindern dieser Kolonisten, falls, wie Dr. Pei befürchtete, Langhorne, Bedard und Schueler offen gegen Alexandria vorgehen sollten. Doch ihr blieb weniger Zeit, als sie selbst erhofft hatte, und wir waren noch nicht zahlreich genug, als sie Alexandria zerstörten und alle ihre und alle unsere Freunde ermordeten. Doch es ist augenfällig, dass auch Langhorne und ein Großteil seiner engsten Vertrauten dabei den Tod gefunden haben müssen. Gerade angesichts der Veränderungen, die an der Heiligen Schrift vorgenommen wurden, vermuten wir, es müsse Commodore Pei gelungen sein, eine Miniatur-Atombombe zu verbergen und schließlich zum Einsatz zu bringen. Im Laufe der Jahre dachte ich oft, die Verwirrung, die aus der Führung der ›Erzengel‹ erwachsen sein musste − und möglicherweise auch die Zerstörung eines Großteils sämtlicher Aufzeichnungen der Verwaltung −, könne erklären, wie es uns gelingen konnte, unbemerkt in diesen abgelegenen Teil von Safehold zu fliehen.
Doch wir wissen nicht, wo Dr. Pei noch andere verborgen haben mag, die uns gleichen. Aus offensichtlichen Gründen wurde uns das niemals mitgeteilt. Wir wissen, dass sie die Absicht gehabt hatte, andere hier zu uns nach Tellesberg zu bringen, aber die Zeit dafür blieb ihr nicht mehr.
Doch wer auch immer du sein magst, der dereinst diese Worte lesen wird: Wir waren nur das eine Eisen in Dr. Peis loderndem Feuer der Wahrheit. Es gibt noch ein
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