Codename Merlin - 3
Mutter Kirche missbilligte. Es ist die Wahrheit, Merlin. Clyntahn hatte ganz recht mit seiner Einschätzung, welche Gefahr Charis für seine geliebte Orthodoxie darstellt. Ich bezweifle zwar, dass sich ihm diese Gefahr dadurch erschlossen hat, dass er sich ausgiebig mit den ihm vorliegenden Beweismitteln befasst hat, aber was uns betrifft, hat er mit seinem Instinkt ganz richtig gelegen.«
»Wie viel davon wusste Haarahld?«, erkundigte sich Merlin leise.
»Alles«, erwiderte Staynair sofort. »Er hat das gesamte Tagebuch gelesen, und auch die Geschichte der Föderation. Genau wie wir anderen hat auch er in diesem Geschichtswerk vieles nicht verstanden, denn schließlich fehlte − und fehlt − uns jeglicher Kontext. Aber ebenso wie wir anderen verstand er doch genug davon. Als Ihr ihn gefragt habt, warum sein Großvater die Leibeigenschaft in Charis abgeschafft habe, hat er Euch völlig ehrlich geantwortet, Merlin. Aber er hätte auch hinzufügen können, dass einer der Gründe, weswegen sein Großvater glaubte, alle Menschen seien gleich erschaffen, nun einmal war, dass auch er jedes einzelne, prachtvolle Wort der Unabhängigkeitserklärung gelesen hatte.«
»Und Cayleb?« Diese Frage stellte Merlin noch leiser, und Staynair legte die Stirn in tiefe Falten.
»Und Cayleb …«, entgegnete der Erzbischof dann, »… ist einer der Gründe, warum Ihr und ich dieses Gespräch gerade jetzt führen.«
»›Gerade jetzt‹?«
»Ja, einer der Gründe ist, dass wir uns zügig dem ›Gottes-Tag‹ nähern, und es erschien … angemessen, Euch vorher die Wahrheit gesagt zu haben.«
Wieder einmal nickte Merlin. ›Gottes-Tag‹ wurde jedes Jahr in der Mitte des Monats Juli gefeiert und entsprach bei der Kirche des Verheißenen etwa Weihnachten und Ostern an einem Tag. Es war der höchste, heiligste Feiertag des Jahres, und angesichts dessen, was die Bruderschaft von Sankt Zherneau über diese Religion wusste, der sie sich so lange nicht offen entgegenzustellen gewagt hatten, verstand Merlin sofort, warum Staynair diese Gespräch hatte führen wollen, bevor er den Gottes-Tag in der Kathedrale von Tellesberg zum ersten Mal in seiner Funktion als Erzbischof von Charis beging. Dennoch …
»Das verstehe ich sehr wohl, Eure Eminenz. Aber was genau hat Cayleb damit zu tun, zu welchem Zeitpunkt Ihr mir diese Kleinigkeit hier enthüllt?«
»Seit die Siegel an den Aufzeichnungen erbrochen wurden, galten strenge Regeln darüber, wann und wie der Inhalt dieser Dokumente anderen bekannt zu geben waren. Eine dieser Regeln besagt, dass bevor jemandem die Wahrheit enthüllt werden dürfe, dieser betreffende Mensch das Alter der Weisheit erreicht haben musste. Und dieses wurde, weil nun einmal eine feste Definition dringend erforderlich war, wann genau ein Mensch dieses Maß an Weisheit erreicht haben mochte, auf ein Alter von dreißig Jahren angesetzt. Eine weitere Regel besagt, dass all diejenigen, die bereits in die Wahrheit eingeweiht sind, zustimmen müssen, bevor ein weiterer eingeweiht wird − und nicht allen, die ursprünglich dafür vorgesehen waren, die Wahrheit zu erfahren, wird sie letztendlich auch kundgetan. Zwei der letzten acht Monarchen von Charis beispielsweise wurden niemals eingeweiht, denn seinerzeit ging die Bruderschaft davon aus, dass dies ein zu großes Risiko darstellen würde. Und …« − Staynairs Blick wurde noch ernsthafter − »… in beiden Fällen haben ihre eigenen Väter sich der Mehrheit der Bruderschaft angeschlossen.«
»Aber das ist doch bei Cayleb ganz gewiss nicht der Fall«, warf Merlin ein.
»Natürlich nicht. Wir hatten immer − nein: Haarahld hatte immer − die Absicht, ihn über die Wahrheit in Kenntnis zu setzen, sobald Cayleb dreißig Jahre alt geworden wäre.
Bedauerlicherweise hat die ›Vierer-Gruppe‹ mit ihrem Angriff auf Charis nicht lange genug gewartet, als dass sich dies tatsächlich hätte in die Tat umsetzen lassen. Jetzt haben wir einen König, auf dessen Entschlusskraft, Mut und Verstand wir alle unbedingt vertrauen, der aber gemäß den Regeln der Bruderschaft zu jung ist, um informiert zu werden. Und um ganz ehrlich zu sein, es gibt in unseren Reihen einige, die seine Jugendlichkeit und seine … direkte Art fürchten. Vielleicht sein Ungestüm. Der junge Cayleb hat sich nie gescheut, seine Meinung offen kundzutun oder sich einem Feind geradewegs zu stellen. Es wird nicht etwa befürchtet, er könne dem Inhalt des Tagebuchs zu wenig Respekt entgegenbringen!
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