Codename Merlin - 3
redet Ihr denn da?«
»Cayleb«, erklärte Merlin geduldig. »Denkt doch einmal darüber nach! Ein PICA ist vollständig funktionsfähig … und ich meine wirklich vollständig funktionsfähig. Ich kann alles tun, was ein biologischer Körper zu tun in der Lage ist, ich kann jede Form der Reaktion nachahmen … und ich habe siebenundzwanzig Jahre − fast dreißig Eurer Jahre − als Frau verbracht. Vertraut mir! Es gibt einige Dinge, die sich nicht ganz so einfach ändern lassen. Da befand ich mich also im Wasser, nackt wie am Tage meiner Geburt, und umgeben von all diesen hübschen, ebenso nackten, muskulösen, glitschigen Männerleibern … und da musste ich feststellen, dass es diese typisch männliche körperliche Reaktion gibt. Vom Verstand her habe ich natürlich immer gewusst, rein abstrakt, was dabei passiert, aber ich hatte doch nicht damit gerechnet, es selbst einmal zu erleben … am eigenen Leib zu erfahren, sozusagen.«
Einen Augenblick lang starrte Cayleb ihn nur an, und dann musste er lachen. Am Anfang war es noch leise, fast unterdrückt, doch dabei blieb es nicht. Sein schallendes Gelächter hatte etwas zutiefst Befreiendes. Es vertrieb aus seinem Blick auch die letzten Überreste der Furcht − wenn es das denn gewesen war.
»Ach du lieber Gott!«, brachte er keuchend hervor, während er lachte und lachte und lachte. »Deswegen seid Ihr im Wasser geblieben! Und deswegen wart Ihr auch so besorgt um Euer Handtuch!«
»Genau«, bestätigte Merlin und klang dabei fast zerknirscht. »Es hat noch einige andere Dinge gegeben, an die ich mich erst gewöhnen musste, aber ich muss zugeben, dass dies wohl das … Interessanteste von allem war.«
Auch Staynair lachte leise in sich hinein, als er begriff, wovon Merlin und Cayleb hier sprachen. Dann schüttelte er den Kopf.
»Merlin«, sagte er, lächelte aber immer noch, »irgendwie hätte ich nicht gedacht, eine tote Frau − oder ein Geist − könne einen Sinn für Humor besitzen.«
»Dessen bin ich mir nicht so sicher, Eure Eminenz.«
»Dann lasst es mich anders ausdrücken. Was ist erforderlich, um einen Menschen als ›lebendig‹ anzusehen?«
»Ich nehme an, die meisten würden sagen, ein wichtiges Kriterium dafür wäre das Atmen.«
»Ja, vielleicht würden das ›die meisten‹ sagen, aber die frage ich jetzt nicht. Ich frage Euch.«
»Ich weiß es wirklich nicht«, gestand Merlin. Wieder blickte er sein Weinglas an. »Vielleicht, weil mich diese Frage so sehr beunruhigt, weil ich über genau dieses Problem immer und immer wieder nachgedacht habe, sodass ich es jetzt einfach nicht mehr mit dem erforderlichen Abstand betrachten kann. Irgendwann habe ich dann beschlossen, selbst wenn ich im eigentlichen Sinne nicht mehr ›lebe‹, kann ich doch immer noch so tun. Zu viele Menschen haben zu große Opfer gebracht, um mich auf diese Welt zu bringen, zu gerade diesem Zeitpunkt, als dass mir irgendetwas anderes zu tun übrig bliebe.«
»Und genau deswegen bin ich mir sicher, dass Ihr wirklich lebendig seid, Merlin. Nimue Alban«, erklärte Staynair. »Ihr selbst habt zu denjenigen gehört, die diese Opfer gebracht haben. Und Ihr habt das, was Ihr bislang schon auf Safehold getan habt, aus Eurem Gefühl unendlicher Verpflichtung anderen Menschen gegenüber getan, die bereits seit fast tausend Jahren tot sind. Oh, ich bestreite nicht, dass Euch diese Menschen wirklich wichtig sind, und ich verstehe auch, dass für Euch noch keine tausend Jahre vergangen sind, seit sie alle den Tod gefunden haben. Aber wie Haarahld Euch einmal gesagt hat, ein Mann muss an seinen Taten gemessen werden. Und trotz all der Lügen, aus denen die Heilige Schrift besteht, gibt es darin doch auch ewige Wahrheiten. Einschließlich der Wahrheit, dass die wahre Natur eines Menschen sich unausweichlich in Form seiner Taten zeigen wird.
Ihr habt Eure Bürde aufgrund Eures persönlichen Zorns getragen, Merlin Athrawes. Ich habe Euch jetzt nicht zwei Jahre lang beobachtet, habe nicht immer wieder mit Euch gesprochen und immer wieder neue Dinge von Euch gelernt, ohne dabei auch viel über den Mann zu erfahren, der Ihr wirklich seid − oder meinetwegen eben auch die Frau. Ihr verspürt jenen Schmerz, der so sehr Teil Eures Lebens ist, und ebenso verspürt Ihr auch die Freuden. Ich hatte schon immer das Gefühl, Ihr wäret ein zutiefst einsamer Mensch, und jetzt weiß ich auch warum. Aber ich habe niemals, nicht einen Moment lang, daran gezweifelt, dass Ihr ein guter Mensch seid.
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