Codename Merlin - 3
abgehalten, genau das zu tun, was Ihr erwartet habt. Er hat auch ernsthaft darüber nachgedacht, das alles zu zerstören, doch er brachte es nicht fertig. Selbst die so oft und zu Recht kritisierte Kirche bringt jeglicher alten Handschrift gehörigen Respekt entgegen. Das hängt wohl mit den ursprünglichen Adams und Evas zusammen, aus deren Hand schließlich Die Offenbarungen stammen. Und natürlich gab es vor vierhundert Jahren deutlich weniger des Lesens und Schreibens kundige Safeholdianer als heute.«
Wieder nickte Merlin. Zu den historischen Erfahrungen der Kirche des Verheißenen gehörten keinerlei der Text-Dispute, wie sie die Kirchen aus terrestrischer Tradition kannten, und Gleiches galt damit auch für die zu vertretende Lehre. Welche Dokumente der Kanon der Kirche umfasste, hatten die Erzengel selbst festgelegt, nicht ein möglicherweise fehlbares Gremium, das aus gewöhnlichen Menschen bestand, und damit war der Kanon der Kirche des Verheißenen von vorneherein über jeden Zweifel erhaben. Und es gab auch keine Tradition von Apokryphen oder gefälschten Dokumenten, die gezielt angefertigt worden waren, um die Glaubensfundamente der Kirche während ihrer Gründungsphase in Misskredit zu bringen. Eine ›Gründungsphase‹ hatte es nie gegeben, und jeglicher Versuch, ›falsches‹ Zeugnis abzulegen, wäre unter den Schriften der acht Millionen Kolonisten, die damals des Lesens und Schreibens kundig gewesen waren, schlichtweg erstickt. Folglich sahen die Bewohner von Safehold die Geschichtlichkeit der Kirche mit völlig anderen Augen als sämtliche Theologen, die es auf Terra jemals gegeben hatte. Jedes nur aufzufindende historische Dokument, gleichwelcher Art, belegte nur stets aufs Neue die Richtigkeit der kirchlichen Traditionen und wurde damit stets zu einer neuen Stütze des Althergebrachten, nicht etwa zu einer Brutstätte des Zweifels.
Natürlich konnte sich so etwas auch ändern, oder etwa nicht? Während für eine Gesellschaft, die bewusst auf Muskel- und Windkraft beschränkt war − verbunden mit all der harten Arbeit, die geleistet werden musste, um diese Gesellschaft auch zu ernähren −, aus den Jahrzehnten dann Jahrhunderte wurden, war die Kunst des Lesens und Schreibens immer weiter in den Hintergrund getreten. Im Großen und Ganzen − natürlich gab es Ausnahmen, vor allem in der Kirche − konnte sich nur noch die Oberschicht leisten, sich mit derlei ›Unwichtigem‹ zu befassen. Und während das Lesen und Schreiben bei der Bevölkerung immer seltener wurde, hatte die Ehrfurcht, die der einfache Mann von der Straße (der nicht lesen und schreiben konnte) den schriftlichen Aufzeichnungen gegenüber empfand, deren Rätsel er selbst niemals würde ergründen können, paradoxerweise immer weiter zugenommen.
Und das muss dem Rat der Vikare ganz wunderbar recht gewesen sein, dachte Merlin grimmig. Wahrscheinlich hat ›Mutter Kirche‹ diese Tendenz sogar aktiv unterstützt, da sämtliche Kirchenmitglieder, die nicht selbst lesen und schreiben konnten, gänzlich darauf angewiesen waren, dass die in der Hierarchie höher Stehenden sie den Inhalt dieser geheimnisvollen Bücher lehrte, die sie selbst nicht mehr lesen konnten. Und das wiederum wurde zu einem weiteren, äußerst effektiven Werkzeug jegliches eigenständiges Denken im Keim zu ersticken. Andererseits nimmt das Lesen und Schreiben seit etwa einem Jahrhundert allmählich wieder zu − ist das vielleicht der Grund dafür, dass die ach so sorgfältig gepflegte Maschinerie, mit der die Kirche das Denken ihrer Schäfchen im Zaum halten will, allmählich auseinanderzufliegen droht?
»Trotz dieser Versuchung, das Tagebuch und die anderen Dokumente zu zerstören, hat er sich doch dagegen entschieden«, erklärte Staynair weiter. »Diese Entscheidung muss ihm unendlich schwergefallen sein. Doch zusätzlich zu diesem Tagebuch hatte er ja auch diesen Brief, den Sankt Zherneau für denjenigen zurückgelassen hatte, der das Siegel schließlich erbrechen sollte. Und natürlich lagen ihm reichlich historische Belege vor, dass Sankt Zherneau tatsächlich selbst ein Adam gewesen war. Dass Sankt Evahlyn eine Eva gewesen war. Und das, zusammen mit all den öffentlich zugänglichen Schriften, die diese beiden hinterlassen hatten − einschließlich einiger Abschnitte in den Offenbarungen −, reichte schließlich aus, um ihn davon abzuhalten, in dem Tagebuch lediglich die Phantastereien eines wahnsinnigen Ketzers zu sehen. Und die Tatsache, dass
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