Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden
Wunder.
Als sich der Staub legte, konnten die SEALs und die Besatzung des zweiten Hubschraubers sehen, dass sich in dem Wrack Männer bewegten. Es war unglaublich: Die fünfköpfige Crew hatte überlebt.
Eineinhalb Kilometer entfernt stand Sohaib auf seinem Balkon und lauschte.
Er hatte nicht gehört, dass der Hubschrauber abgestürzt war – und hätte es akustisch auch kaum wahrnehmen können, denn wenn ein echter „Heli“ den Geist aufgibt, klingt das lange nicht so dramatisch wie im Film. Die Motoren des Hubschraubers hatten im Todeskampf aufgekreischt und die brechenden Rotoren hatten sich angehört, als würde ein Stock über einen Lattenzaun gezogen. Sohaib horchte. Noch ein Hubschrauber – diesmal war es ein MH-47 Chinook – flog ganz in der Nähe vorbei und verschwand Richtung Osten. Er hörte ihn, konnte ihn aber nicht sehen. Wie die übrigen Helikopter, die zum Einsatz kamen, flog auch dieser ohne Licht und war genau in der Farbe des dämmrigen Nachthimmels gestrichen.
Sohaib setzte einen weiteren Tweet ab: „Hau ab, Hubschrauber – sonst zücke ich meine überdimensionale Fliegenklatsche ;-/“.
Vier Minuten nach 1 Uhr wurde die Stadt von einer heftigen Explosion erschüttert – ein Donnerschlag aus einem wolkenlosen Himmel. Weit weg in der Dunkelheit hatten die SEALs mit Plastiksprengstoff das Eingangstor zu bin Ladens Anwesen aufgesprengt. Wer die Explosion gehört hatte, dachte an eine Autobombe.
Sohaib verfolgte, wie die Tweets seiner Freunde über das Display seines Laptops liefen: @m0chin twitterte: „Nach der Explosion ist alles ruhig, doch ein Freund hat sie noch in 6 km Entfernung gehört … der Hubschrauber ist weg …“
Dann kam ein Tweet von @han3yy: „OMG: Bombe explodiert in Abbottabad. Ich hoffe, alle sind wohlauf ☺“.
Der Verkehr auf der Straße unter Sohaibs Fenster war inzwischen komplett zum Erliegen gekommen. Die ganze Stadt Abbottabad schien den Atem anzuhalten. Es folgten zwei oder drei weitere Detonationen, kleiner, gedämpfter. Deshalb konnten sie genauso tödlich sein, dachte Sohaib. Vielleicht war er im Irrtum gewesen, als er diesen Ort für sicher hielt. Er ging in sein Wohnzimmer zurück, setzte sich an seinen Rechner und twitterte erneut:
„Schon komisch, dabei war der Umzug nach Abbottabad Teil meiner persönlichen ‚Sicherheitsstrategie‘.“
Sohaib Athar und Osama bin Laden waren aus den gleichen Gründen nach Abbottabad gekommen … nämlich um sich und ihre Familien aus der Gefahrenzone zu bringen.
Beide hatten Abbottabad für einen sicheren Ort gehalten.
Einer hatte sich geirrt.
DER WEG DER SEALS NACH ABBOTTABAD
MÄNNER MIT GRÜNEN GESICHTERN
JUNI 2006: JOHNNY COFFEE UND DREW HOLLAND hatten den ganzen glühend heißen Tag über in einem Loch gesessen, das nur knapp einen Meter breit und einen halben Meter tief war. Von Kopf bis Fuß getarnt und von Dattelpalmwedeln und Unrat bedeckt, versteckten sie sich quasi im offenen Gelände. Sie waren in der Nacht zuvor von einem Hubschrauber abgesetzt worden, am Rand eines im Dunkeln liegenden Viertels von Bagdad entlanggegangen und durch einen Friedhof über dessen verfallene Mauern hinweg in den Dattelpalmenhain gelangt. Dort hatten sie sich mitsamt ihren Waffen eingegraben, die leicht nach Westen ausgerichtet waren – rund 300 Meter von einer Häusergruppe an der Nordwestecke Bagdads entfernt. Ein ungeübtes Auge hätte unter den Palmen kein Versteck vermutet. Es gab weder Büsche noch Unterholz und keine Mulde, die auch nur groß genug für einen Hund gewesen wäre, geschweige denn für zwei vollbewaffnete Männer mit Kommunikationsausrüstung. Doch sie waren da, hatten sich eingerichtet und warteten.
Johnny und Drew waren ein Zweierteam – ein Scharfschütze und ein Beobachter der Joint Task Force 20, einer Hunter-Killer-Einheit des Joint Special Operations Commands JSOC, gesprochen „Jaysock“. Das ist eine Dachorganisation, der Amerikas wichtigste Terrorismusbekämpfungskräfte unterstehen, unter anderem das SEAL-Team 6 und die Armee-Einheit Special Forces Operational Detachment-Delta (SFOD-D), auch Delta Force genannt. Die zwei Männer im Dattelhain gehörten zur kleinsten, elitärsten Spezialeinheit der Welt: zum SEAL-Team 6.
Johnny Coffee sollte schießen. Er war 34, Navy SEAL und seit über zehn Jahren Scharfschütze. Es war sein zweiter Einsatz im Irak und sein fünfter Kampfeinsatz. Sein Beobachter und Vorgesetzter bei diesem Auftrag, Drew, war nur sechs Monate älter, doch
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