Codewort Rothenburg
Ermittlung enthielt er wenige Notizen. Was wussten sie vom Opfer? Sie kannten den Namen: Dora Zegg, zweiunddreißig Jahre und – so viel hatte Rösen herausgefunden - verheiratet mit dem Zahnarzt Dr. Wilhelm Zegg. Daut zog die Fotos der Leiche aus einem braunen Umschlag, dabei fiel Asche auf eines der Bilder und verursachte einen Brandfleck. Daut fluchte leise und klopfte die Zigarette auf dem Aschenbecher ab. Dora Zegg war zu Lebzeiten eine Schönheit. Ihre dunklen Haare fielen in Wellen bis auf die Schultern. Das sah man heute kaum noch. Die Mode diktierte andere Frisuren. Die Olympiawelle, den Bubikopf. Selbst Luise hatte sich vor einem Jahr von ihrem Zopf verabschiedet, obwohl Daut, wenn auch nur schwach, protestierte. Vom Gesicht der Toten war nicht mehr viel zu erkennen. Daut kannte diese Verletzungen. Zu viele hatte er davon gesehen. Rechts oberhalb der Nasenwurzel sah man eine große Austrittswunde. Der Schuss muss aus nächster Nähe abgegeben worden sein. Vermutlich aufgesetzt. Es sah aus wie eine Hinrichtung.
Die Kleidung der Frau war teuer. Vorkriegsware. Gekauft in einem der schicken Modeateliers auf dem Kurfürstendamm oder im KaDeWe. Es war die Garderobe einer wohlhabenden Dame. Verdienten Zahnärzte so viel? Daut wusste es nicht und machte sich eine Notiz. Die Zigarette war verglimmt. Er schüttelte die letzte aus dem Päckchen, das er zerdrückt in den Papierkorb warf. Die Leiche lag wie aufgebahrt im Gras. Der Doktor hatte keinen Hinweis gefunden, dass sich der Täter an der Frau vergangen hatte. Dora Zegg hielt ein zerknülltes Stück Papier in der Hand, als hätte sie es gerade wegwerfen wollen.
Daut klemmte die Zigarette in den Mundwinkel und faltete den Zettel auseinander. Es war ein Brief, adressiert an eine »Inge Wilhelmi - Brandenburgische Straße 13«. Die Sütterlinschrift wirkte kindlich ungeübt. Der Verfasser hatte den Bleistift nach etwa der Hälfte des Textes angespitzt, von da an waren die Striche dünner und konturierter. Der Zigarettenrauch trieb Daut Tränen ins Auge. Er nahm den Glimmstängel in die Hand und fixierte den Zettel mit der Prothese auf der Tischplatte. So ein Mist, er trug noch den feinen Handschuh, auf dessen Oberseite ihn ein halbmondförmiger, heller Fleck ärgerte. Er rieb mit dem Daumen über die Stelle, während er las:
»Liebes Ingelein! (Merkst Du, dass es fast wie Engelein klingt?)
Du bekommst bestimmt viele solche Briefe, aber ich kann Dir versichern, dass ich niemals zuvor etwas Vergleichbares geschrieben habe. Wie denn auch, denn ich habe noch nie so etwas erlebt wie mit Dir. Nicht nur das, was Du jetzt denkst. Obwohl mir noch immer schwindelig wird, wenn ich mich daran erinnere ... Aber darüber darf man nicht schreiben. Ich mag mir nicht einmal vorstellen, jemand könnte erfahren, was wir beide miteinander teilen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich so etwas einmal erleben darf.
Du bist ein Wunder, eine Prinzessin aus einem Märchen! Du bist die entzückendste Frau, die ich je gesehen habe! Du hast das liebste Lächeln, die schönsten Augen, die vollsten Lippen, die zarteste Haut!
Ach, liebes Ingelein mein! Könnte ich das doch jemals mit Berechtigung sagen: Mein! Sag mir bitte, nein besser noch: Schreib mir, dass ich mir keine unerfüllbaren Hoffnungen mache. Weise mich nicht zurück. Ich werde Dich auf Händen tragen. Immer! Ewig!
Dein Dich innigst liebender Ludwig.«
Was sollte man davon halten? Zu viele Ausrufezeichen. Zu viele Superlative. Zu viel Schmalz.
Die Frage war: Wer war Inge Wilhelmi?
Sechs
Luise war aufgeregt, als müsste sie eine Prüfung ablegen. Dabei machte alles einen entspannten Eindruck. Gustav und Erna Neebs Wohnung war gemütlich eingerichtet. Ein bisschen groß für zwei Leute. Es wohnten eben nicht alle Menschen in Berlin so beengt wie die Dauts. Allein der Esstisch hätte ihre Wohnung ausgefüllt. Die Neebs brauchten Platz. Sie hatten viele Freunde und gaben große Gesellschaften, so hatte Erna es ihr erzählt.
Luise wurde den Kloß im Hals nicht los. Sie war die Neue, und alle musterten sie. Ein Dutzend Augenpaare starrten sie an. Sie hatte nicht mit so vielen Besuchern gerechnet. Erna hatte von einem Eintopfessen gesprochen, zu dem sie an jedem Sonntag ein paar Freunde einluden. Auf dem Tisch stand eine Schüssel, aus der es köstlich nach Gemüse und Fleisch duftete. Die Neebs boten ihren Gästen also tatsächlich Eintopf an. Axel und sie machten schon über den einen Eintopfsonntag im Monat Witze. Außerdem
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