Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
umklammert.
Das Benehmen des Mannes hatte sich geändert. Bislang war er zwar wenig gesprächig, aber immer höflich und sogar liebenswürdig gewesen, hatte sich nach diesem oder jenem erkundigt, nach alten Verbindungswegen über die Berge, nach Verwandten und Besuchern, nach dem Wetter und nach der Anzahl der Tiere, die zum Hof gehörten. Nun hatte er einen völlig anderen Ton angeschlagen, er klang ungeduldig, sogar anmaßend.
»Es ist völlig überflüssig, so viel Aufhebens zu machen«, sagte der Mann.
»Aufhebens machen?«, fragte der Bauer. »Ich kann natürlich hier graben, wenn Sie es wünschen. Ich kann mich aber nicht an irgendwelche Altertümer erinnern. Wissen Sie denn, was für ein Grab das ist?«
Der Mann starrte den Bauern an. Dann wanderten seine Blicke zum schwer verhangenen Himmel im Westen, von wo sich das Unwetter näherte, und seine Miene wurde hart und entschlossen. Der Mann war groß und muskulös, und das schwarze Haar reichte ihm bis auf die Schultern. Unter der hohen Stirn, die ihn wie einen Gelehrten aussehen ließ, lagen die braunen Augen in tiefen Höhlen, sein Blick war unstet und forschend. Der Ring, den er trug, hatte gleich am ersten Abend die Aufmerksamkeit des Bauern auf sich gezogen, ein schwerer Siegelring mit einem seltsamen Symbol.
»Nein«, sagte er, »deswegen muss ich ja graben. Wirst du das übernehmen? Mir pressiert es.«
Der Bauer sah den Mann an, dann die beiden Reichstaler. »Ich hole die Gerätschaften«, sagte er dann und steckte die Münzen in die Tasche.
»Beeil dich!«, rief der Mann ihm nach. »Das Wetter gefällt mir nicht.«
Jetzt stand er oben am Rand des Grabes und spornte den Bauern an weiterzugraben. Das Wetter verschlimmerte sich zusehends. Der Sturm heulte, und der Regen prasselte auf sie herunter. Der Bauer schlug vor, am nächsten Tag weiterzumachen, in der Hoffnung, dass sich das Wetter bis dahin bessern würde und sie bei Tageslicht arbeiten konnten. Aber davon wollte der Mann nichts wissen. Er musste sein Schiff erreichen. Er war seltsam erregt und redete mit sich selbst über etwas, was der Bauer nicht verstand. Dauernd erkundigte er sich, ob der Bauer schon etwas sähe, ein Skelett oder irgendwelche anderen Gegenstände da unten im Grab.
Dem Mann ging es ganz offensichtlich um solche Gegenstände. Er wollte dem Bauern jedoch nichts Genaueres sagen. Ob es sich beispielsweise um einen oder mehrere Gegenstände handelte oder wieso er von ihrer Existenz auf diesem alten Friedhof wusste, auf dem seit mehr als hundert, wenn nicht zweihundert Jahren niemand mehr beerdigt worden war.
»Siehst du da etwas?«, rief er wieder durch das Toben des Unwetters.
»Ich kann überhaupt nichts erkennen«, rief der Bauer zurück. »Kommen Sie doch etwas näher mit dem Licht.«
Der Mann trat ganz bis an den Rand des Grabes und leuchtete mit der Laterne hinunter zu dem Bauern. Unten sah er Überreste des Sargs, der durch den Spaten beschädigt worden war, Holzstücke lagen verstreut herum. Etwas, daswie ein Stück Stoff aussah, war zu sehen, und er überlegte, ob die Leiche möglicherweise in ein Leinentuch gewickelt worden war. Dem Bauern hatte das Graben zugesetzt, und er schaufelte jetzt langsamer. Jedes Mal, wenn er den Spaten zum Grabesrand hob, war weniger Erde darauf.
»Was ist das da?«, rief der Mann und deutete auf eine Stelle vor ihm. »Grab dort!«
Der Bauer stöhnte.
»Komm raus!«, befahl der Mann. »Ich werde weitermachen. Komm hoch!«
Er reichte dem Bauern seine Hand, der froh war, sich ausruhen zu können. Der Mann zog ihn aus dem Grab und übergab ihm die Laterne. Dann kletterte er selbst in das Loch hinunter, warf die Holzplanken des Sargs nach oben und fing an, wie besessen zu schaufeln. Bald stieß er auf Knochen. Der Mann legte den Spaten zur Seite und grub mit den Händen weiter. Rippen- und Handknochen kamen in der Erde zum Vorschein, und schließlich konnte der Bauer auch einen Schädel erkennen. Ein Schauder überlief ihn, als er die leeren Augenhöhlen und das Nasenloch sah, aber keine Zähne.
»Wer liegt dort?«, rief er. »Wem gehört dieses Grab?«
Der Mann tat, als höre er ihn nicht.
»Ist das wirklich ratsam?«, flüsterte der Bauer. »Wir wollen doch keine Gespenster aufwecken! Die Toten müssen in Frieden ruhen dürfen!«
Der Mann beachtete ihn nicht, sondern fuhr fort, mit den Händen die Erde von den Knochen wegzukratzen. Der Regen, der immer heftiger auf sie niederprasselte, hatte das Grab in ein einziges Morastloch
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