Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
zurückzuschicken, die dort aus dem heißen Wüstensand ausgegraben worden waren.
Über all das grübelte ich um die Mitte des Jahrhunderts, als junger Student ganz auf mich gestellt, in Kopenhagen. Inden neuen Schuhen, die meine Tante mir besorgt hatte, tat ich die ersten Schritte in ein neues Leben und wusste nicht, was mich in der großen, weiten Welt erwartete. Einerseits war ich etwas beklommen, andererseits brannte ich aber darauf, mich in das Studium der Nordischen Philologie zu stürzen. Ein gewisses Selbstvertrauen verlieh mir die Tatsache, dass ich es aus eigener Kraft geschafft hatte, nach Kopenhagen zu kommen: dank meiner Fähigkeiten und dem unlöschbaren Wissensdurst, der wie ein heißes Feuer in mir loderte.
Auf dem Hafenkai verabschiedete ich mich von Óskar und versprach, mit ihm in Verbindung zu bleiben. Mit Hilfe von Dr. Sigursveinn hatte ich ein kleines Mansardenzimmer in der Skt. Pedersstræde gemietet, nicht weit von Jónas Hallgrímssons letzter Wohnung und dem alten Universitätsgelände. Ganz in der Nähe war die Øster Voldgade, wo das Haus von Jón Sigurðsson steht. Und in der Tat galt mein erster Besuch in dieser Stadt seinem Haus; ich saugte alles in mich auf, was ich dort sah. Ich versuchte, mich in die Zeit hineinzuversetzen, als Jón noch in dem Haus gelebt und gewirkt hatte, um für Islands Unabhängigkeit zu kämpfen. Damals war das Haus noch nicht in isländischem Besitz. Ich erklomm die Treppe zum zweiten Stock und atmete den Geist des Hauses ein. Am Abend unternahm ich einen Spaziergang am Kongens Nytorv, trank einen Krug Bier im Skinnbrogen und beobachtete die Menschen auf der Straße. Ich ging früh zu Bett und vertraute meinem Tagebuch an, dass ich nunmehr in Kopenhagen eingetroffen sei und mich darauf freuen würde, spannende wissenschaftliche Aufgaben in Angriff nehmen zu dürfen.
An diesen ersten Tag habe ich wehmütig süße Erinnerungen; alles wirkte so neu und fremd und geheimnisumwoben auf mich. Der Geschmack des Biers im Skinnbrogen . Die Menschenmenge auf Kongens Nytorv. Die Septembersonneauf meinem Gesicht. Die selbstbewussten Mädchen auf ihren schwarzen Fahrrädern.
Am Tag nach meiner Ankunft in der Stadt sollte ich meinen zukünftigen Professor in der Abteilung für Nordische Philologie treffen. Diese Begegnung mit ihm sollte einschneidenden Einfluss auf mein Leben haben. Wenn ich zurückdenke, taucht der Professor immer so vor meinem geistigen Auge auf, wie er war, als ich ihn in meinen ersten Tagen in Kopenhagen kennenlernte.
Nichts hätte mich auf diese Begegnung vorbereiten können.
Zwei
An meinem ersten Morgen in Kopenhagen wachte ich früh auf und ging zu Fuß von meiner Unterkunft in der Skt. Pedersstræde zum Universitätsgelände bei der Vor Frue Kirke. In der Nacht hatte es geregnet, aber jetzt war ein schöner Spätsommertag angebrochen, mit strahlend blauem Himmel und schneeweißen Wolkentürmen im Osten. Die Bäume standen nach einem sonnenreichen Sommer immer noch in vollem Laub. Es war sehr warm – solche Temperaturen hatte ich zu dieser Jahreszeit noch nie erlebt. Hitze vertrug ich schlecht, und ich besaß überhaupt keine Sommerkleidung, sondern nur warme Hosen, lange Unterhosen, Strickpullover und -westen und einen ziemlich abgetragenen Anzug für besondere Gelegenheiten. Meine Tante machte sich Sorgen, dass ich den ganzen Winter frieren würde, und hatte mir ans Herz gelegt, mich immer warm anzuziehen und darauf zu bestehen, dass in meinem Zimmer nicht an der Heizung gespart würde.
Das Büro des Professors lag im ersten Stock eines alten Gebäudes in der Skt. Kannikestræde, nicht weit von der Universitätsbibliothek. Als ich die alte Holztreppe hinaufging, knarrten die Stufen anheimelnd. Kurz darauf klopfte ich wohlerzogen an die Tür, an der sich ein kleines Messingschild mit seinem Namen befand. Er wusste von meinem Kommen. Dieser Termin war schon vor längerer Zeit festgesetzt worden, die Begegnung war eigentlich nur eine Formsache, denn meine Bewerbung um die Aufnahme indie Fakultät war schon längst angenommen worden. Ich klopfte ein weiteres Mal, diesmal etwas fester. Ich warf einen Blick auf die Armbanduhr, die meine Tante mir zum Abschied geschenkt hatte. Es war Punkt neun Uhr; damals gab ich mir alle Mühe, pünktlich zu sein, denn ich hielt das für wichtig.
Ich stand ziemlich verloren auf dem Flur herum, und die Zeit verging. Es war fünf nach neun, dann Viertel nach, und schließlich waren fünfundzwanzig Minuten
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