Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
verwandelt. Plötzlich stieß er auf einen Widerstand. Er tastete sich vorsichtig vor und stieß einen leisen Schrei aus, als er sah, was es war. Er hatte einen Behälter aus Blei gefunden.
»Kann es denn wirklich wahr sein«, stöhnte er, und eshatte ganz den Anschein, als hätte er Ort und Zeit um sich herum vergessen. Er säuberte den zylindrischen Behälter und hielt ihn unter das Licht der Laterne.
»Haben Sie etwas gefunden?«, rief der Bauer.
Der Mann legte den Behälter auf dem Rand des Grabes ab und kletterte heraus. Die beiden Männer hatten sich von Kopf bis Fuß mit Erde besudelt und waren völlig durchnässt. Dem Gast schien das nichts auszumachen, aber der alte Bauer, der sich mit der Laterne in der Hand kaum bewegt hatte, fing an zu zittern. Sein fast zahnloser Mund wurde von einem weißen Bart umrahmt, unter der Mütze verbarg sich eine Glatze. Seine gebückte Haltung ließ auf ein beschwerliches Leben schließen. Er hatte dem Gast erklärt, dass er sich eigentlich darauf freute, bei seinen Neffen unterzukommen.
Der Mann hob den Bleibehälter auf und wischte die Erde von ihm ab.
»Lass uns ins Haus gehen«, sagte er und setzte sich in Bewegung.
»Das wird guttun«, sagte der Bauer und folgte dem Mann. Als sie im Haus waren, ging der Bauer sofort zur offenen Feuerstelle in der Küche und legte Holz nach. Der Ankömmling setzte sich mit dem Behälter hin, und nach einigen Anstrengungen gelang es ihm, ihn zu öffnen. Er fischte den Inhalt mit dem Zeigefinger heraus, betrachtete ihn eingehend und schien zufrieden zu sein mit dem, was er gefunden hatte.
»Die Leute im Tal werden staunen, wenn sie das hören«, sagte der Bauer und starrte auf den Inhalt.
Der Mann blickte hoch. »Was hast du gesagt?«
»Das ist der seltsamste Besuch, den ich je bekommen habe!«, erklärte der Bauer.
Der Mann stand auf. Die beiden standen einander in der kleinen Wohnstube gegenüber, und der Mann schieneinen Augenblick zu überlegen. Der Bauer starrte ihn an und sah das regennasse, glänzende Gesicht und die braunen Augen unter der Hutkrempe, und plötzlich fiel ihm wieder die Geschichte ein, die ihm beim letzten Besuch im Handelsort zu Ohren gekommen war, über den Blitz, der die Männer auf der Halbinsel Reykjanes getroffen und auf der Stelle erschlagen hatte.
Nach der Schneeschmelze im folgenden Frühjahr drängte der Neffe des Bauern darauf, bei seinem Onkel nach dem Rechten zu sehen. Sie trafen niemanden an, der Bauer war nicht anwesend und schien auch den ganzen Winter über nicht auf seinem Hof gewesen zu sein. Es war lange kein Feuer gemacht worden, und auch einiges andere deutete darauf hin, dass monatelang niemand auf dem Hof gewesen war. Die Küche war ordentlich verlassen worden, alles stand an seinem Platz. Die Schlafplätze in der Wohnstube waren hergerichtet, und die Haustür war sorgfältig verschlossen worden. Der Hund des Bauern war nirgends zu finden, und auch im Tal war er nicht aufgetaucht. Beim Schafabtrieb im folgenden Herbst fand man seine Schafe, sie hatten den ganzen Winter und den Sommer im Freien verbracht.
Die Nachricht darüber, dass der Bauer verschwunden war und wie es auf dem Hof ausgesehen hatte, erregte einiges Aufsehen in der Gegend. Niemand wusste etwas über seinen Verbleib, er hatte sich auf keinem der Nachbarhöfe blicken lassen. Mit der Zeit glaubten die Leute, dass er während des Winters mit seinem Hund losgezogen war, vermutlich um die Weihnachtszeit, und wahrscheinlich in einem Unwetter den Tod gefunden hatte.
Als in dem Frühjahr eine Suche nach ihm durchgeführt wurde, fand man nicht die geringste Spur. Auch später tauchten keinerlei Überreste von dem Bauern und seinemHund auf. Diejenigen, die nach Hallsteinsstaðir kamen, um die armseligen Hinterlassenschaften des Bauern unter sich aufzuteilen, nachdem kein Zweifel mehr bestand, dass er nicht mehr am Leben war, bemerkten die aufgewühlte Erde unweit des Hofes und gingen davon aus, dass der Bauer vor seinem Verschwinden damit begonnen hatte, die Grashügel in der Wiese unterhalb des Hangs einzuebnen.
1955
Eins
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass mein Entschluss, Mitte der fünfziger Jahre das Studium der Nordischen Philologie an der Universität in Kopenhagen fortzusetzen, mich in derartige Abenteuer verstricken könnte. Am besten verrate ich gleich, dass mir in jenen Jahren kaum der Sinn nach Abenteuern stand, an denen ich selbst in irgendeiner Form beteiligt wäre; ich zog es vor, in Büchern über
Weitere Kostenlose Bücher