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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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hatte. Und so arbeitete ich nur ein paar Monate später ganztags in
Ealing, saß jeden Mittag mit Stuart und seinen Kollegen in der Kantine. Damals
begann ich Notiz von der hübschen Frau mit dem hellbraunen Haar zu nehmen,
Anfang zwanzig, die offenbar jeden Tag allein am Nebentisch aß.
    Es kommt mir vor, als wäre es
eine Ewigkeit her. Damals schien noch alles möglich. Alles. Ob so ein Gefühl je
wiederkommt?
    Lieber nicht drüber
nachdenken.
    Also: John Smiths Tod. An dem
Tag hatte sich ein ganzer Trupp von uns an einem der Resopaltische zum
Mittagessen versammelt. Es war im Frühsommer 1994. Ob es an dem Tag regnete
oder die Sonne schien, weiß ich nicht, weil wir in unserem trübe beleuchteten
Kantinenraum nie auch nur die leiseste Ahnung vom Wetter draußen hatten. Wir
nahmen unsere Mahlzeiten im permanenten Schummer ein. Aber an diesem Tag war
etwas anders: Dave - der unerträgliche Kerl aus der Elektroabteilung - hatte
Caroline zu uns an den Tisch geholt, zweifellos in der Absicht, bei ihr zu
landen, und es war eine Qual, es miterleben zu müssen, weil er sich gar so
dilettantisch dabei anstellte. Nachdem er mit Schilderungen seines Sportwagens
und der supermodernen Stereoanlage in seiner schicken Junggesellenbehausung in
Hammersmith bei ihr abgeblitzt war, griff er den Tod von John Smith auf, der am
selben Morgen in den Nachrichten gemeldet worden war, und nahm ihn zum Anlass
für eine Reihe geschmackloser Witze über Herzinfarkte. Etwa in der Art: Die
Ärzte konnten nach Smiths erstem Herzinfarkt in den späten Achtzigern das Herz
wiederbeleben, nicht aber das Gehirn - kein Wunder also, dass man ihn an die
Spitze der Labour Party gewählt hatte. Caroline reagierte auf diese Art Humor
mit demselben verächtlichen Schweigen, mit dem sie der Unterhaltung von Anfang
an gefolgt war, und abgesehen von ein paar lauen Lachern, die weder von
Caroline noch von mir stammten, erntete er keinerlei Reaktion, bis ich mich -
zu meiner eigenen Verwunderung - sagen hörte: »Das ist nicht lustig, Dave. Echt
nicht.« Die meisten Kollegen waren bereits fertig mit dem Essen, und nach und
nach standen alle auf und gingen, nur Caroline und ich nicht. Keiner von uns
sagte etwas, aber wir blieben beide sitzen und ließen uns wie in stillschweigender
Übereinkunft Zeit mit unserem Nachtisch. Und so saßen wir ein, zwei Minuten in
verlegenem, irgendwie erwartungsvollem Schweigen da, bis ich etwas betreten
bemerkte, dass Sensibilität nicht gerade eine von Daves Stärken sei, und da
hörte ich zum allerersten Mal Carolines Stimme.
    Ich glaube, das war der Moment, in dem ich mich in sie
verliebte. Einfach wegen dieser Stimme. Ich hatte, passend zu ihrem Äußeren,
eine geschliffene, ultrakultivierte Sprechweise erwartet, stattdessen bekam ich
breitesten, bodenständigsten Lancaster-Akzent zu hören. Es traf mich so
unversehens - es verzauberte mich derart -, dass ich im ersten Moment gar nicht
mitbekam, was sie sagte, und nur ihre Stimme auf mich wirken ließ, beinahe so, als
würde jemand in einer besonders wohlklingenden Fremdsprache zu mir sprechen.
Bevor ich einen zu desaströsen Eindruck machen konnte, riss ich mich jedoch
zusammen und konzentrierte mich und bekam gerade noch mit, dass sie wissen
wollte, warum ich mich nicht an den Scherzen beteiligt hatte. Ob ich der Labour
Party nahestehe, fragte sie, und ich antwortete, nein, damit habe es nichts zu
tun. Ich hielt es einfach nicht für richtig, sagte ich, Witze über einen frisch
Verstorbenen zu machen, schon gar nicht über einen anständigen Mann, der Frau
und Kinder hinterließ. Caroline sah das genauso, aber sie schien noch aus
einem anderen Grund traurig über seinen Tod zu sein: Er komme zur absoluten
Unzeit für die britische Politik, meinte sie, denn John Smith hätte wahrscheinlich
die nächste Wahl gewonnen und wäre ein hervorragender Premierminister geworden.
    Ich muss gestehen, dass dieses
Gespräch nicht gerade typisch für unsere Kantine war, und schon gar nicht für
die Gespräche, die ich normalerweise dort führte. Ich habe mich nie besonders
für Politik interessiert. (An den beiden letzten Wahlen habe ich mich gar nicht
mehr beteiligt, und Tony Blair habe ich 1997 nur gewählt, weil ich glaubte,
dass Caroline es von mir erwartete.) Und als ich gleich darauf erfuhr, dass Caroline
nur als Teilzeitkraft in der Umstandsmodenabteilung arbeitete und gerade
begonnen hatte, ihren ersten Roman zu schreiben, fühlte ich mich erst recht
überfordert. Ich lese so gut

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