Coe, Jonathan
Während die meisten Menschen das Hin und Her
der Autos auf einer belebten Straße als einen normalen, ordentlich funktionierenden
Verkehrsfluss wahrnahmen, erschien es Stuart wie eine endlose Abfolge
haarscharf vermiedener Zusammenstöße. Er sah die Autos mit hoher
Geschwindigkeit aufeinander zurasen und sich nur um Zentimeter verfehlen - ein
ums andere Mal, alle paar Sekunden, den ganzen Tag lang. »Diese ganzen Autos«,
sagte er zu mir, »die alle immer so haarscharf aneinander vorbeischlittern, wie
soll man das nur ertragen?« Am Ende ertrug er es nicht mehr, und aus war es mit
dem Autofahren.
Warum mir dieses Gespräch ausgerechnet
an diesem Abend wieder einfiel? Es war der 14. Februar 2009. Der zweite Samstag
im Februar. Valentinstag, um es deutlich zu sagen. Hinter mir flimmerten die
Hafenlichter auf dem Wasser, und ich musste allein essen, weil mein Vater sich
aus Gründen, die nur ihm bekannt waren, geweigert hatte, mich zu begleiten,
obwohl es mein letzter Abend in Australien war und ich ja eigens dorthin
gekommen war, um ihn zu besuchen und eine neue Beziehung zu ihm aufzubauen. Es
muss einer der einsamsten Momente in meinem Leben gewesen sein, und der Anblick
der Chinesin, die an dem Tisch mit ihrer Tochter Karten spielte, brachte es mir
erst so richtig zu Bewusstsein. Die beiden wirkten so glücklich zusammen. Sie
waren einander so nah. Sie sprachen kaum, und wenn, dann ging es - soweit ich
das beurteilen konnte - um ihre Karten, aber das war gar nicht so wichtig. Man
brauchte nur ihre Blicke zu sehen, ihr Lächeln, die Art, wie sie immer wieder
lachten, die Köpfe zusammensteckten. Verglichen mit ihnen schien sich von den
Gästen an den anderen Tischen keiner so recht zu amüsieren. Sicher, dort wurde
auch geredet und gelacht. Aber niemand war auch nur annähernd so ein Herz und
eine Seele wie die Chinesin und ihre Tochter. Mir gegenüber saß ein Paar, das
sich offensichtlich bei einem Date befand: Er sah ständig auf die Uhr, sie
überprüfte alle paar Augenblicke ihr Handy nach neuen Textnachrichten. Hinter
mir saß eine vierköpfige Familie, die beiden kleinen Jungen spielten mit ihren
Nintendo-DS-Konsolen, die Eltern hatten seit zehn Minuten kein Wort mehr
miteinander gewechselt. Zur Linken versperrte mir eine Gruppe von sechs
Freunden teilweise den Ausblick auf den Hafen: Zwei von ihnen führten eine
hitzige Auseinandersetzung, die als Diskussion um globale Erwärmung begonnen hatte,
sich inzwischen aber mehr um wirtschaftliche Themen zu drehen schien; keiner
der beiden gab auch nur einen Zentimeter nach, während die anderen vier
schweigend dabeisaßen und gelangweilt Löcher in die Luft guckten. Ein älteres
Paar auf der anderen Seite hatte sich gleich nebeneinander und nicht einander
gegenüber gesetzt, um statt zu reden einfach die Aussicht genießen zu können.
Nichts davon deprimierte mich sonderlich; auch wenn ich meine Hand dafür ins
Feuer gelegt hätte, dass alle diese Menschen in dem Bewusstsein heimgehen
würden, einen wunderbaren Abend verlebt zu haben. Einzig die Chinesin und ihre
Tochter beneidete ich, und zwar, weil sie ganz eindeutig etwas Kostbares
besaßen: etwas, das mir schmerzhaft fehlte. Etwas, an dem ich teilhaben wollte.
Woher ich wusste, dass sie
eine Chinesin war? Natürlich wusste ich es nicht mit Sicherheit. Aber sie kam
mir chinesisch vor. Sie hatte langes schwarzes Haar, leicht ungebärdig, ungekämmt.
Ein schmales Gesicht mit hervortretenden Wangenknochen. (Ich fürchte, ich bin
nicht sehr gut darin, Menschen zu beschreiben - tut mir leid.) Knallroter
Lippenstift, ein etwas eigenwilliger Akzent. Das hübsche Lächeln eine Spur
schmal-lippig und gerade deshalb irgendwie umso lebhafter. Sie war teuer
angezogen und trug eine Art schwarzen Chiffonschal (auch mit meinem Talent im
Beschreiben von Garderoben ist es nicht weit her - freuen Sie sich schon auf
die nächsten vierhundert Seiten?), der von einer großen goldenen Brosche
zusammengehalten wurde. Sie war also das, was man wohl »gut situiert« nennt.
Elegant - das würde es treffen. Ausgesprochen elegant. Auch ihre Tochter war
gut gekleidet, auch sie hatte schwarzes Haar (nun ja, wann trifft man schon mal
blonde Chinesinnen?) und ich schätzte sie auf etwa acht oder neun. Sie hatte
ein ganz besonderes Lachen: Es begann als kehliges Kichern, aus dem gluckernde
Laute hervorsprudelten, sich zur Kaskade steigerten und dann verloren wie ein
Bach, der sich einen Berghang herab in eine Reihe von Teichen ergießt. (Wie
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