Coins - Die Spur des Zorns
viel, interpretierte sie die Substanz ihrer Begegnung eher ihrer Hoffnung als der Realität entsprechend? Gott bewahre sie davor!
Sie starrte auf die Tastatur des Telefons, dann auf die aufgeschlagene Seite des Notizbuchs in ihrer Hand. Es war mehr als nur die Angst um Jans Schicksal, sie spürte das beinahe körperliche Verlangen, seine Stimme zu hören. Seit die beiden Offiziere vor ihrer Tür gestanden hatten, um ihr die schreckliche Nachricht des Todes ihres Mannes zu überbringen, hatte sie für niemanden Ähnliches empfunden. Sie schüttelte unbewusst den Kopf. ‚Sei realistisch! Jan lebt in Europa, du in West Virginia! Wie soll das gehen, wie das erhoffte Ende finden?‘ So oft schon hatte sie in den letzten Tagen den inneren Dialog geführt, wenn Gefühl und Verstand miteinander rangen. Sie durfte sich nicht verrennen! Doch der Wunsch, den Kontakt nicht sterben zu lassen, war übermächtig. Ihre Fingerkuppe strich über die Tasten, während ihre Gedanken den Atlantik übersprangen, als sei er ein Heckenzaun. Dann gab sie Pohls Nummer ein. Ihr Herz schlug bis zum Halse.
„Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte sprechen Sie eine Nachricht …“
Die verdammte Mailbox! Sie drückte die Gabel nieder. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Eine Weile stand sie wie betäubt, nicht fähig zu einem klaren Gedanken. Doch dann ging ein Ruck durch sie. Sie würde ihm eine Nachricht auf die Mailbox sprechen! Einer musste den ersten Schritt tun! Erneut ruhte ihr Blick auf Jans Telefonnummer. Sie begann zu wählen. Aber was sollte sie ihm nur sagen? Natürlich! Dass sie sich Sorgen mache! Und dass er sich melden soll. Ungeduldig wartete sie auf das Freizeichen.
Pohl hatte die Tüte am Fußende der Leiter abgestellt, stand nun auf der obersten Stufe, presste ein Ohr ans Türblatt und lauschte angespannt ins Innere des Bauwagens. Nichts, kein Laut. Vorsichtig drückte er die Klinke nieder, öffnete die Tür einen Spalt weit. Ein unüberhörbares Schnarchkonzert verriet ihm, dass von den Bewohnern des Bauwagens auf absehbare Zeit keine Gefahr ausging. Mit einem entschlossenen Schritt betrat er den im Halbdunkel liegenden Raum. Ein rascher Blick verdeutlichte ihm die Situation. Sascha und Victor, der im Gesicht noch immer von den Prügeln gezeichnet, lagen ausgestreckt jeweils in einer Ecke eines vergammelten Sofas, die Köpfe weit über die Rückenlehne nach hinten gelehnt, die Beine zum wärmenden Ofen gerichtet, zwischen sich zwei halbgeleerte Wodka-Flaschen. Nanu? Er hatte vier Flaschen in die Tüte gesteckt!
Sein suchender Blick erfasste das Umfeld des Sofas. Aha! Er trat einen Schritt zur Seite, dann sah er die gesuchten Flaschen. Sie waren, beide geleert, unter das Sofa gerollt. Pohl schüttelte ungläubig den Kopf. Sascha und Victor hatten jeweils anderthalb Flaschen Wodka intus! In dieser kurzen Zeit! Ungläubig starrte er auf die zwischen den beiden stehenden Flaschen. Anhand der Etiketten erkannte er, dass sie sogar über die Hälfte hinaus geleert waren! Musste er da überhaupt noch tätig werden? Die soffen sich doch selbst zu Tode!
Pohl wusste, dass dies kein seriöser Gedanke war. Natürlich würde er die Sache zu Ende bringen. Er trat an den Ofen, ein gusseisernes Relikt der Nachkriegszeit, öffnete die Klappe, schaute ins Innere. Es war noch ausreichend Glut vorhanden, aber ein, zwei Briketts könnten nicht schaden. Sie hatten sie unter dem Bauwagen gelagert, er hatte das bei seiner ersten Inspektion unterbewusst registriert. Er würde das nachher erledigen. Doch dann besann er sich eines anderen. Er erinnerte sich an die Qualmwolke, als sie in der Frühe Briketts nachgelegt hatten. Das Brenngut war offensichtlich feucht, neigte beim Anheizen zur Qualmentwicklung. Qualm musste er im Innern des Bauwagens vermeiden! Also machte er sich sofort auf den Weg.
Kurz darauf hatte er drei Briketts mit einiger Mühe im Ofen untergebracht. Durch die halb geöffnete Ofentür beobachtete er die Rauchschwaden, die, von der Hitze aus den Briketts getrieben, in raschem Wirbel den Weg zum Ofenrohr suchten. Er wartete einige Minuten, bis das Qualmen ein Ende gefunden hatte, dann schloss er die Ofentür. Nun musste er die Schlüssel der Leiter finden. Er ließ seinen Blick durch den engen Raum gleiten, als ein donnerndes Geräusch ihn zusammenfahren ließ. Intuitiv drehte er sich zur Lärmquelle um, bereit, den Angreifer abzuwehren. Doch da war kein Angreifer. Ihm war nicht klar, wer
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