Collins, Suzanne
fünfzig, hundert gesteigert. Ich hatte ausgebombte Gebäude erwartet,
stattdessen werde ich mit zerstörten Körpern konfrontiert.
Und hier soll ich gefilmt werden? Ich wende mich an Boggs.
»Das wird nicht funktionieren«, sage ich. »Hier wird das nichts.«
Vermutlich sieht er die Panik in meinem Blick, denn er
hält kurz inne und legt mir die Hände auf die Schultern. »Du machst das schon.
Sie sollen dich nur sehen. Damit kannst du mehr für sie tun als alle Ärzte der
Welt.«
Eine Frau, die den eintreffenden Patienten Plätze zuweist,
bemerkt uns, muss noch mal hingucken. Dann kommt sie energisch auf uns zu.
Ihre dunkelbraunen Augen sind vor Erschöpfung geschwollen, sie riecht nach
Metall und Schweiß. Der Verband um ihren Hals hätte schon vor Tagen gewechselt
werden müssen. Der Riemen des Maschinengewehrs, das sie auf dem Rücken trägt,
ist ein Stück nach hinten gerutscht und schnürt sie ein. Sie bewegt die
Schulter, um ihn wieder zurechtzurücken. Mit dem Daumen weist sie die Ärzte
an, ins Lagerhaus zu gehen. Sie gehorchen anstandslos.
»Das ist Commander Paylor aus Distrikt 8«, sagt Boggs.
»Commander, darf ich Ihnen Soldat Katniss Everdeen vorstellen?«
Für einen Commander sieht sie jung aus. Anfang dreißig.
Aber ihre Stimme hat einen gebieterischen Klang, an dem
man merkt, dass ihre Ernennung nicht willkürlich erfolgt sein kann. Neben ihr
komme ich mir in meinem funkelnagelneuen Aufzug, geschrubbt und glänzend, vor
wie ein frisch geschlüpftes Küken, das erst lernen muss, wie man sich in der
Welt bewegt.
»Ich weiß, wer das ist«, sagt Paylor, und dann, zu mir gewandt:
»Du lebst also. Wir waren uns nicht ganz sicher.« Irre ich mich oder schwingt
da ein Vorwurf mit?
»Ich bin mir selbst noch nicht ganz sicher«, erwidere ich.
»Krankenstation.« Boggs tippt sich an den Kopf. »Üble Gehirnerschütterung«,
sagt er und senkt kurz die Stimme: »Fehlgeburt. Aber sie wollte unbedingt
herkommen und eure Verwundeten sehen.«
»Na, davon haben wir mehr als genug«, sagt Paylor.
»Haltet ihr das für eine gute Idee?«, fragt Gale und
blickt stirnrunzelnd auf das Lazarett. »Alle eure Verwundeten auf einem
Haufen?«
Insgeheim pflichte ich ihm bei. Eine ansteckende Krankheit
würde sich an diesem Ort rasend schnell ausbreiten.
»Auf jeden Fall besser, als sie sterben zu lassen, denke
ich«, sagt Paylor.
»Das habe ich nicht gemeint«, entgegnet Gale.
»Im Moment ist das nun mal die einzige Alternative. Aber
wenn ihr eine andere Idee habt und Coin damit einverstanden ist - ich bin ganz
Ohr.« Paylor winkt mich herein. »Tritt ein, Spotttölpel. Und bring doch deine
Freunde mit.«
Ich werfe einen Blick hinter mich auf meine skurrile
Begleiterschar und folge ihr ins Lazarett, auf das Schlimmste gefasst. Ein
schwerer Industrievorhang hängt auf ganzer Länge des Gebäudes herunter und
trennt einen ziemlich breiten Gang ab, in dem Seite an Seite tote Körper
liegen. Der Vorhang streicht über ihre Köpfe, weiße Bandagen verbergen die
Gesichter. »Etwas westlich von hier haben wir ein Massengrab ausgehoben, aber
ich habe im Moment nicht genug Leute, um sie rüberzuschaffen«, sagt Paylor. Sie
findet einen Schlitz im Vorhang und schlägt ihn beiseite.
Ich klammere mich an Gales Handgelenk. »Lass mich hier
bloß nicht allein«, flüstere ich ihm zu.
»Ich bin bei dir«, antwortet er leise.
Ich trete durch den Vorhang und erlebe einen Anschlag auf
meine Sinne. Mein erster Impuls ist es, mir die Nase zuzuhalten, um den
Gestank nach schmutzigen Laken, verfaulendem Fleisch und Erbrochenem
abzuwehren, der von der Hitze, die im Lagerhaus herrscht, ins Unerträgliche
gesteigert wird. Die Luken hoch oben im Metalldach stehen offen, doch die frische
Luft vermag den Dunst darunter nicht aufzulösen. Die schwachen Sonnenstrahlen
bilden die einzige Lichtquelle, und als meine Augen sich ans Zwielicht gewöhnt
haben, sehe ich Reihe um Reihe von Verletzten, auf Feldbetten, Strohsäcken und
auf dem Boden - so viele, dass nirgends ein freier Platz ist. Das Summen der
schwarzen Fliegen, das Stöhnen der leidenden Menschen und das Schluchzen ihrer
Angehörigen verbinden sich zu einem herzzerreißenden Chor.
In den Distrikten gibt es keine richtigen Krankenhäuser.
Wir sterben zu Hause, was bei dem Anblick, der sich mir hier bietet, eine
annehmbare Alternative darstellen würde. Dann wird mir bewusst, dass die
meisten Leute hier nach den Bombardements wahrscheinlich kein Zuhause mehr
haben.
Der Schweiß
Weitere Kostenlose Bücher