Collins, Suzanne
nach Gale um. Er ist auf den Beinen,
augenscheinlich unversehrt.
»Ihr habt maximal fünfundvierzig Sekunden bis zur nächsten
Welle«, sagt Plutarch.
Als ich mein Bein belaste, stöhne ich auf, aber ich laufe
trotzdem los. Keine Zeit, die Verletzung zu untersuchen. Am besten überhaupt
nicht hinschauen. Zum Glück habe ich die von Cinna entworfenen Schuhe an: Sie
haften bei Kontakt am Asphalt fest und lösen sich beim Abheben wieder. Hätte
ich noch das schlecht sitzende Paar Schuhe, das Distrikt 13 mir zugeteilt hat,
wäre ich verloren. Boggs läuft vor, sonst überholt mich keiner. Stattdessen
passen sie sich an meine Geschwindigkeit an, decken meine Flanken, meinen
Rücken. Während die Sekunden ticken, zwinge ich mich zu einem Zwischenspurt.
Wir lassen das zweite Lagerhaus hinter uns und laufen an einem schmutzig
braunen Gebäude entlang. Weiter vorn erkenne ich eine blassblaue Fassade. Dort
befindet sich der Bunker. Wir haben gerade die letzte Gasse erreicht, die uns
vom Eingang trennt, als die nächste Bombenwelle anrollt. Instinktiv hechte ich
in die Gasse und lasse mich auf die blaue Wand zurollen. Jetzt wirft Gale sich
auf mich und bildet eine weitere Schutzschicht zwischen mir und den Bomben.
Diesmal scheint es länger zu dauern, dafür sind wir weiter weg.
Ich drehe mich auf die Seite und schaue Gale direkt in die
Augen. Einen Augenblick lang weicht die Welt zurück, nur sein gerötetes Gesicht
ist noch da, die pochenden Schläfen, seine leicht geöffneten Lippen, während er
wieder zu Atem zu kommen versucht.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt er. Seine Worte gehen
fast in einer Explosion unter.
»Ja. Ich glaube nicht, dass sie mich gesehen haben«,
antworte ich. »Sie verfolgen uns nicht.«
»Nein, sie hatten was anderes im Visier«, sagt Gale.
»Ich weiß, aber hier ist doch gar nichts außer ...« Erst
jetzt begreifen wir.
»Das Lazarett.« Gale springt auf und ruft den anderen zu:
»Sie bombardieren das Lazarett!«
»Das ist nicht euer Problem«, sagt Plutarch bestimmt.
»Macht, dass ihr zum Bunker kommt.«
»Aber da sind doch nur Verwundete!«, sage ich.
»Katniss.« Ich höre den warnenden Unterton in Haymitchs
Stimme und weiß, was jetzt kommt. »Schlag dir den Gedanken gleich wieder aus
dem Kopf...!« Ich reiße mir das Headset aus dem Ohr und lasse es am Kabel
baumeln. Jetzt, da ich nicht mehr abgelenkt werde, höre ich ein anderes
Geräusch. Maschinengewehrfeuer, das vom Dach des schmutzig braunen Lagerhauses
auf der anderen Seite der Gasse kommt. Jemand erwidert das Feuer. Bevor
irgendwer mich aufhalten kann, stürme ich auf eine Leiter zu und steige hinauf.
Klettern. Wenn ich eins kann, dann das.
»Nicht stehen bleiben!«, höre ich Gale hinter mir sagen.
Dann das Geräusch seines Stiefels in irgendeinem Gesicht.
Falls es das von Boggs war, wird Gale später teuer dafür bezahlen müssen. Ich
erreiche das Dach, wuchte mich auf die Teerpappe und helfe Gale hoch. Dann
rennen wir los, hin zu den MG-Nestern an der Straßenseite des Lagerhauses.
Jedes wird offenbar von mehreren Rebellen besetzt. Wir werfen uns in eins der
Nester und ducken uns hinter die Schutzwand.
»Weiß Boggs, dass ihr hier oben seid?« Links von mir hockt
Paylor hinter einem der MGs und sieht uns skeptisch an.
Ich suche nach einer ausweichenden Antwort, ohne sie
direkt anzulügen. »Kein Problem, er weiß, wo wir sind.«
Paylor lacht auf. »Bestimmt. Haben sie euch gezeigt, wie
man damit umgeht?«, fragt sie und schlägt auf den Schaft ihres Gewehrs.
»Mir ja. Ich hab's in Distrikt 13 gelernt«, sagt Gale.
»Ich würde aber lieber meine eigene Waffe benutzen.«
»Ja, wir haben unsere Bogen dabei.« Ich halte meinen Bogen
hoch und merke im selben Augenblick, wie niedlich er wirken muss. »Er ist
gefährlicher, als er aussieht.«
»Das will ich hoffen«, erwidert Paylor. »Gut. Wir erwarten
mindestens noch drei weitere Wellen. Bevor sie die Bomben fallen lassen, müssen
sie den Sichtschutz ausschalten. Das ist unsere Chance. Bleibt unten!« Ich knie
nieder und mache mich schussbereit.
»Als Erstes die Brandpfeile«, sagt Gale.
Ich nicke und ziehe einen Pfeil aus dem rechten Köcher.
Falls wir danebenzielen, werden die Pfeile irgendwo landen, wahrscheinlich auf
dem Lagerhaus gegenüber. Ein Feuer kann man löschen, aber der Schaden, den ein
Sprengpfeil anrichtet, könnte irreparabel sein.
Plötzlich tauchen sie auf, zwei Blocks weiter unten, etwa
hundert Meter über uns. Sieben kleine Bomber in
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