Collins, Suzanne
eine halbe
Stunde der Muße vor dem Abendessen. Die Sorge steht ihnen ins Gesicht
geschrieben, sie versuchen, meinen Seelenzustand zu erraten. Bevor irgendwer
etwas fragen kann, leere ich meinen Jagdbeutel aus und ändere das Programm um
in 18.00 Uhr - Großes Katergekuschel, Prim
sitzt, Rotz und Wasser heulend, auf dem Boden und wiegt ihren grässlichen Kater
in den Armen, der sein Schnurren hier und da unterbricht, um mich anzufauchen.
Und als Prim ihm das blaue Band um den Hals bindet, bedenkt er mich mit einem
Blick, den man nur als selbstzufrieden bezeichnen kann.
Meine Mutter drückt das Hochzeitsfoto fest an die Brust
und stellt es dann zusammen mit dem Pflanzenbuch auf unsere von der Regierung
gestellte Kommode. Ich hänge die Jacke meines Vaters über eine Stuhllehne.
Einen Augenblick lang wirkt der Raum fast wie ein Zuhause. Der Ausflug nach 12
war also nicht völlig sinnlos.
18.30 Uhr - Abendessen. Wir sind auf
dem Weg hinunter in den Speisesaal, als Gales Mailmanschette piepst. Sie sieht
aus wie eine überdimensionale Uhr, empfängt aber geschriebene Nachrichten. Eine
Mailmanschette ist ein besonderes Privileg und steht nur jenen zu, die wichtig
für die Sache sind. Gale hat sich diesen Status durch die Rettung der
Flüchtlinge aus Distrikt 12 erworben. »Sie möchten, dass wir beide in die Kommandozentrale
kommen«, sagt er.
Ich tapere hinter Gale her und versuche mich innerlich auf
die nächste Spotttölpelsitzung einzustellen, die mich jetzt wohl erwartet. Ich
bleibe im Eingang zur Kommandozentrale stehen, dem Hightech-Konferenz- und
Kriegsratsraum, der mit computerisierten sprechenden Wänden, elektronischen
Karten der Truppenbewegungen in den verschiedenen Distrikten sowie einem
gigantischen rechteckigen Tisch mit Kontrollhebeln ausgestattet ist, die ich
auf keinen Fall berühren darf. Doch niemand beachtet mich, alle haben sich am
anderen Ende des Raums um einen Fernsehschirm versammelt, der rund um die Uhr
das Programm des Kapitolsenders zeigt. Ich will die Gelegenheit nutzen, um
mich davonzuschleichen, als Plutarch, dessen massige Gestalt den Bildschirm
verdeckt hat, mich erblickt und energisch heranwinkt. Widerwillig trete ich
näher und versuche mir vorzustellen, was es da für mich Interessantes zu sehen
geben könnte. Es ist immer das Gleiche. Kriegsbilder. Propaganda.
Wiederholungen der Bombardierung von Distrikt 12. Eine Unheil verkündende
Botschaft von Präsident Snow. Deshalb ist es fast angenehm, Caesar Flickerman,
den ewigen Moderator der Hungerspiele, mit seinem geschminkten Gesicht und dem
glitzernden Anzug zu sehen, der sich auf ein Interview vorbereitet. Angenehm,
ja - bis die Kamera plötzlich zurückzoomt und ich sehe, wer sein Gast ist.
Peeta.
Ein Laut entfährt meiner Kehle, eine Mischung aus Stöhnen
und dem Schnappen nach Luft, wie wenn man unter Wasser ist und der Mangel an
Sauerstoff unerträglich wird. Ich bahne mir einen Weg durch die Leute, bis ich
genau vor ihm stehe und meine Hand auf den Bildschirm legen kann. Ich suche
nach Anzeichen von Verletzungen in seinem Blick, einem Widerschein der
Folterqual. Aber da ist nichts. Peeta sieht gesund aus, geradezu kräftig. Seine
Haut leuchtet makellos, wie nach einer Ganzkörperpolitur. Er wirkt ernst und
gefasst. Ich kann diesen Anblick nicht mit dem zerschundenen, blutenden Jungen
in Einklang bringen, der mich in meinen Träumen heimsucht.
Caesar macht es sich in seinem Sessel gegenüber Peeta bequem
und sieht ihn eine Weile an, bevor er spricht. »Tja ... Peeta ... Herzlich
willkommen mal wieder.«
Peeta lächelt schmal. »Schätze, Sie haben gedacht, Sie
hätten mich zum letzten Mal interviewt, Caesar.«
»Ich gestehe es, ja«, sagt Caesar. »Am Abend vor dem
Jubel-Jubiläum ... Mensch, wer hätte gedacht, dass wir dich noch einmal
wiedersehen würden?!«
»War auch nicht geplant, das können Sie mir glauben«, antwortet
Peeta finster.
Caesar beugt sich ein wenig vor. »Ich glaube, jeder hier
weiß, was du geplant hattest. Du wolltest dich in der Arena opfern, damit Katniss
Everdeen und dein Kind überleben.«
»So ist es. Ganz einfach.« Peeta fährt mit den Fingern das
Muster auf der gepolsterten Sessellehne nach. »Aber da hatten auch andere Leute
ihre Pläne.«
Ja, da hatten auch andere Leute ihre Pläne, denke ich.
Hat Peeta sich zusammengereimt, dass die Rebellen uns wie Schachfiguren
benutzt haben? Dass meine Rettung von Anfang an geplant war? Und dass nicht
zuletzt unser Mentor, Haymitch Abernathy, uns
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