Meine geheime Autobiographie - Textedition
Vorwort
Von Rolf Vollmann
Wenns nicht gar zu sehr eilt, dann sollten sich auch die Ältesten unter uns noch ein bisschen Zeit lassen mit dem Sterben, dies ist nur der erste Band von Mark Twains bislang geheim gehaltner Autobiographie, zwei kommen noch, und es wäre doch, so herrlich wie das Ganze losgeht, zu schade, wenn wirs nicht weiter-, nicht auslesen könnten im schönsten Fall.
Selber ist er ja mit der Zeit umgegangen, als hätt er davon geerbt wie sonst kein Schreibender, Jahrhunderte, und verfügt testamentarisch, kaum fängt er an mit dem Erzählen seines Lebens, dass erst ein volles Jahrhundert nach dem Ende dieses Erzählens und Lebens wir so viel später noch Lebenden das Vergnügen haben sollen, ihm noch einmal Stunden, Tage, Wochen lang zuzuhören.
Das Vergnügen – davon nämlich, dass es für uns eines sein muss nach hundert Jahren, ist Mark Twain offenbar überzeugt. Wenn sonst einer anfängt, sein Leben zu beschreiben, bringen ihn ja besonders zwei Probleme wirklich in die Klemme, nämlich erstens, dass das Geschriebne nicht zu spät herauskommt, wenn er selber nichts mehr davon hätte und womöglich längst tot und, ach Gott, ja, vergessen wäre und es dann ohnehin kein Verleger mehr drucken würde; aber zweitens darfs auch nicht zu bald sein, wenn etwa welche noch leben von denen, über die er endlich gern mal was Wahres sagen möchte; so dass er nun, will ers doch herausbringen, solang sie noch leben samt Frauen und Kindern und Enkeln und Anwälten, lügen und das Beste verschweigen muss, oder wieder druckt es kein Verleger.
Und da sind nun hundert Jahre ein Maß, als hätte ein Kind alle Zweifel gelöst und gesagt: sag einfach 100 Jahre. Wie ist einer, der darauf hört? Demütig? Selbstbewusst? Größenwahnsinnig? Selber kindisch? Alles wahrscheinlich,also wirklich ein großer Mann, und davon überzeugt, dass er einer ist, und das mit Recht, wie wir jetzt zu unserm Vergnügen und Staunen sehn. Und neben dem Vergnügen dieses Staunen, das ähnelt ein bisschen wirklich dem Gefühl, das wir haben, wenn Homer manchmal von seinen Helden sagt, solche wie sie gäb es heute nicht mehr.
Diese Ferne, die er sich so zu dem genommen hat, was er erzählt, gibt dem Erzähler nun eine geradezu unbedenkliche Freiheit, und seiner Erzählung jenen Schimmer wunderbarer Ungezwungenheit, der uns von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde immer faszinierter zuhören lässt. Zuhören lässt eher als Lesen, und von Minute und Stunde zu Minuten und Stunden eher als von Seite zu Seite – Mark Twain hat diese fast unendliche Geschichte nicht selber aufgeschrieben, sondern diktiert, als wär es die spontane Erzählung, nach der sie klingt. Es kann aber nicht daran liegen, zum Beispiel hat sein berühmter Kollege und Zeitgenosse Henry James seine späteren großen Romane ebenfalls diktiert, ohne dabei doch je den ungeheuer komplexen Stil zu verleugnen, den keine spontane Erzählung haben kann, und niemals haben will. Und man erinnert sich dann, dass diesen besagten Schimmer schöner Ungezwungenheit Mark Twains Romane und Erzählungen immer schon hatten; und es sieht nun fast so aus, als war dies alles, diese Unbedenklichkeit, diese schöne Ungezwungenheit, diese Ferne der hundert Jahre und dies wie hingeredete Erzählen nur ein und dasselbe Wesen einer glücklichen Schriftstellernatur.
Ab und zu, aber ohne den Leser allzu sehr strapazieren zu wollen, schaltet Mark Twain Reflexionen ein über das, was er da treibt. Zu den vorhin genannten Problemen beim Beschreiben des eignen Lebens kommen ja noch andre dazu, eines ist, dass es zu vorzeitiger grausamer Ermüdung führen kann, wenn wir den Selbsterzähler sagen wir mit dem vierten Jahr seines Lebens beginnen sehn und wissen, dass er achtzig geworden ist; Goethe, den Mark Twain gut kannte, er war, Mississippi rauf und Missouri runter, ein außerordentlich belesener Schriftsteller, Goethe gibt dafür ein hübsches ironisches Beispiel, wenn sein Wilhelm Meister der schönen Mariane seine Kindheit erzählt, und diese dabei, und sie liebt ihn wirklich, wunderbar einschläft. Tagebücher wieder, obgleich sie reine Gegenwart zu sein scheinen,machen durch sagen wir sechzig Jahre hindurch mitunter etwas ungeduldig, vielleicht hier noch obendrein durch das Fehlen jeden Lichts von woandersher, von jetzt vielleicht.
Mark Twain nun, dieser höflichste aller Schreiber, der lieber zehnmal nachdenkt, eh er einmal den Leser ermüden könnte, erfindet nun die eigentlich
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