Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
ganzen Vormittag durch die Straßen gekurvt. Gegen Mittag bin ich in einem Bistro zu Füßen des Märtyrerdenkmals eingekehrt und habe drei Sandwiches mit Merguez verdrückt, ein halbes Dutzend Zigaretten gequalmt und mir danach einen anständigen Kaffee auf der Terrasse vom Oasis genehmigt, im Schatten regenbogenfarbener Sonnenschirme. Gegen fünfzehn Uhr bin ich zur Moutonmere [Name der Schnellstraße, die nahe der Küste vom Flughafen zur Stadt führt] zurück und habe einer Gruppe Clochards beim Streiten zugesehen. Ihr unverständliches Gezänk sprudelte aus den Wellen hoch und zerfranste weit hinten am Horizont, aufgesogen vom Tumult des Mittelmeers.
Das Meer ist in Trance. Es wirft seine Sturmstrupps ans Ufer, versucht, die Felsen zu zerbröckeln, macht Vorstöße und Rückzieher, die niemanden täuschen. Eines schönen Tages werde ich mir Angeln kaufen und von der alten Landungsbrücke herab den Fischen auflauern. Ich werde mir einen Sonnenhut überstülpen und von früh bis spät mit meinen Kindern plaudern. Mina wird mir zusehen, wie ich unermüdlich meine Köder auswerfe, einen immer weiter als den anderen, und jede meiner Handbewegungen wird unter ihrem Blick zu einer Heldentat. Später werden wir am Strand die gefangenen Fische grillen. Der Abend wird es nicht leicht haben, uns aus unseren Träumen zu reißen.
Ein Spaziergänger fragt mich nach der Uhrzeit. Seltsamerweise ist meine Uhr um fünf nach halb vier stehengeblieben. Ich werfe mir die Jacke über die Schulter und mache mich Richtung Stadt auf den Weg, entlang der Küstenpromenade, quer durch Bab El-Oued und die Kasbah, und parke zuletzt an der Place des Martyrs. Auf der Suche nach ich weiß nicht was. Algier ist manchmal wie eine Dunkelkammer. Ein einziger Lichtstrahl könnte alles verderben.
Ich muß an Serdj denken, den sie in einer vorgetäuschten Straßensperre einen Kopf kürzer gemacht haben, an seinen Jüngsten, der bei der Trauerfeier hinter einem Fahrradreifen herlief, ohne zu begreifen, warum so viele Leute im Haus waren. Einen Seufzer weiter steht mir eine zertrümmerte Bar vor Augen. Selbstgebastelte Bombe. Eine Schule erinnert mich daran, daß sie auf Schüler geschossen haben, die kaum den Windeln entwachsen waren. Eine Toreinfahrt erzählt mir die Geschichte des jungen Rekruten, der nie die Pensionärsfreuden des Kegelns kennenlernen wird. Nichts als Tragödien auf meinem Weg, nichts als tragische Mißverständnisse …
Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich zum ersten Mal den Fuß nach Algier gesetzt habe. Es war ein Freitag. Der ächzende Bus, der mich auf dem Umweg über Ghardai’a aus Igidher entführt hatte, kam genau in dem Moment auf dem Place du 1er Mai zum Stehen, als der Muezzin zum Dohr-Gebet rief. Ich hatte meinen Koffer am Eingang der Moschee abgestellt. Nach dem Gebet stand er immer noch da, nur eine Spur zur Seite geschoben, um den Zutritt in den Gebetsraum freizuhalten. Das war 1967, zu einer Zeit, da man die Nacht verbringen konnte, wo sie einen überraschte, ohne um seinen Geldbeutel bangen zu müssen, geschweige denn um sein Leben.
An jenem Freitag übertraf der Frühling sich selbst. Die Balkons standen in vollem Blütenschmuck, und die Mädchen, eingehüllt in milchige Siegesbanner, dufteten wie Blumenwiesen. Es war die Zeit, da der Zufall die Tage nach dem Vorbild des lieben Gottes schuf - glückliche Tage. Die Straßen luden mich ein, an ihrem Glück teilzuhaben, breiteten Geschäfte, Schaufenster, Grillbuden und lauschige Plätze vor mir aus; und ich, der kesse Bauernjunge in seinem billigen, übergroßen Tergalanzug, der mit seinen breiten Streifen wie ein Sträflingshemd wirkte, in seinem Hemd, dessen gestärkter Kragen das halbe Revers verdeckte, ich paradierte stundenlang umher, mächtig stolz auf mein Cowboy-Koppel mit der mächtigen Gürtelschnalle, auf der zwei versilberte Winchester prangten. Mein Herz schlug beim kleinsten Lächeln auf Frauenlippen höher, ich war in jeden weiblichen Vornamen verliebt.
Mit meinem Gesicht eines Dorfgigolos und meinen nagelneuen Inspektorstressen machte ich mich daran, die Herzen zu erobern. Ich war achtundzwanzig und hatte genausoviel Gründe, die mich glauben ließen, Algerien sei mein.
Und eines Tages, während ich mich als Liebhaber von ganz Algier fühlte, begegnete ich Mina. Im hintersten Winkel der Kasbah, bei einem Färber. Ich war gekommen, um mir eine Krawatte für den Samstagabend auszuleihen. Sie war schon da und wartete auf den Burnus ihres
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