Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
schokoladenüberzogene
Ingwerstücke auf der Untertasse. Dann schob er Tasse und
Untertasse fürsorglich über seinen Schreibtisch —
an dem ausführlichen Bericht vorbei, den Tron Bossi heute
Morgen im Palazzo Balbi-Valier diktiert hatte. Im Gesichtsausdruck
Spaurs mischten sich Besorgnis und Bewunderung. «Für
das, was gestern Nacht passiert ist, sehen Sie gut aus,
Commissario», sagte er.
Was sicherlich
stimmte, dachte Tron, wenn man in Betracht zog, dass dieser Schlag
mit der Flasche auch fatalere Folgen für ihn hätte haben
können. Was vielleicht nicht ganz stimmte, wenn man den Kopfverband
sah, der ihm heute Morgen frisch angelegt worden war: ein
mächtiges, aus vielen Binden zusammengesetztes, haubenartiges
Gebilde, das unter dem Kinn mit einer großen Schleife
zusammengebunden worden war und ihn beim Blick in den Spiegel an
ein Kind mit Ziegenpeter erinnert hatte.
Der Verband gab seiner
Erscheinung einen Einschlag ins Lächerliche, verlieh ihm
andererseits aber die Aura eines Mannes, der es heroisch abgelehnt
hatte, die schmutzige Arbeit den subalternen Rängen zu
überlassen. So gesehen — und das war auch ein Grund, aus
dem Tron sich in die Questura begeben hatte - bot er ein Bild
unbedingter Pflichterfüllung. Und das würde, dachte er,
denjenigen, die seine ausgedehnten Kaffeehausbesuche während
der Dienstzeit monierten, über Jahre hinaus den Wind aus den
Segeln nehmen.
Fühlte er sich gut?
Merkwürdigerweise ja. Jedenfalls bis auf einen leichten
Kopfschmerz und eine minimale Benommenheit, die er allerdings als
angenehm empfand. Sie bewirkte eine gewisse Distanz zu den
Geschehnissen, verlieh ihm Gelassenheit — genau das, was er
im Moment gut gebrauchen konnte.
Die Erinnerung an das,
was sich gestern Nacht im Palazzo Ducale zugetragen hatte, war
teils klar, teils verschwommen. Den Schlag hatte er noch
registriert, auch die blitzenden Sternchen, die er den Bruchteil
einer Sekunde später gesehen hatte. Doch dann war es schwarz
geworden, und vermutlich, dachte Tron, war es die Eiseskälte
gewesen, die ihn eine gute halbe Stunde später wieder das
Bewusstsein zurückerlangen ließ, und nicht der Sergeant
und der eilig herbeigerufene Offizier, die ihn an der Schulter
rüttelten, auf ihn einschrien und offenbar nicht wussten, was
sie zu tun hatten.
Was war geschehen?
Julien hatte sich, nachdem er ihn niedergeschlagen hatte, den
Mantel angezogen, den Zylinderhut aufgesetzt und war mit Hilfe
seines Passierscheins ins Freie spaziert. Ihn hatten sie, nachdem der eilig
herbeigerufene Hotelarzt des Danieli nichts gegen einen Transport
einzuwenden gehabt hatte, auf einer Militärgondel in den
Palazzo Balbi-Valier gebracht — zu einer Principessa, die
ihren Augen nicht trauen wollte. Bossi war heute Morgen im Palazzo
der Principessa erschienen, wo ihm Tron, noch im Bett liegend, den
Bericht diktiert hatte. Erst gegen Mittag hatte Tron — gegen
den Protest der Principessa — den Entschluss gefasst, sich in
die Questura zu begeben, um mit Spaur zu sprechen. Wie hatte Oberst
Stumm von Bordwehr auf die Ereignisse der letzten Nacht reagiert?
Auf die Flucht des Mannes, den er als Täter ausersehen hatte,
und auf den Umstand, dass Trons Passierschein am offiziellen
Dienstweg vorbei ausgestellt worden war?
Das waren Fragen,
über die der Polizeipräsident nachdenken musste —
oder er wollte Tron ein wenig auf die Folter spannen. Spaur nahm
einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, legte ein angebissenes
Praliné auf die Akte und betrachtete es, als wäre es
ein Puzzleteilchen, das nirgendwo passen wollte.
«Ich
denke», sagte er schließlich, «der Oberst
trägt die Flucht von Signor Sorelli mit
Fassung.»
«Und die
Angelegenheit mit dem Passierschein?»
Spaur nahm das halbe
Praliné von der Akte und ließ es in seinem Mund
verschwinden. Mit vollem Mund zu sprechen war nie ein Problem
für ihn gewesen. «Ist vergessen», sagte er kauend.
«Der Oberst hat mit dem Stadtkommandanten gesprochen. Man ist
offenbar entschlossen, die Sache nicht weiter zu
verfolgen.»
«Gibt es eine
Spur von Signor Sorelli?»
Spaur zuckte die
Achseln. «Es wird vermutet, dass er um Mitternacht den
Lloyddampfer nach Triest genommen hat.»
«Ist an die
Kollegen in Triest telegrafiert worden?»
«Leider zu
spät. Die Passagiere waren bereits von Bord.»
«Dann wird er
versuchen, sich nach Frankreich durchzuschlagen», sagte
Tron.
«Was macht der
Kopf?»
«Signor Sorelli
hätte härter zuschlagen können. Ich bezweifle, dass
er
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