Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
seine
Gondel zu. Ein dritter Gepäckträger lief dicht hinter dem
Zivilisten und hielt, den Arm nach vorne gereckt, einen Regenschirm
über ihn. Vor der obersten Stufe blieben sie stehen und
blickten auf ihn herab. Der Zivilist, der die
Gepäckträger anführte, trug einen Gehrock, dazu den
üblichen schwarzen Zylinderhut, und betrachtete ihn mit
hochgezogenen Brauen. Dann sagte er in reinstem Toskanisch,
vielleicht weil er wusste, dass er es mit einem Ausländer zu
tun hatte: «Ich bin Commissario Tron. Wir müssen Sie
leider bitten, uns ein paar Fragen zu
beantworten.»
25
«Ich
gratuliere», sagte die Principessa, nachdem Tron seinen
Bericht beendet hatte. Es war sieben Stunden später, und er
saß im Speisezimmer des Palazzo Balbi-Valier.
Sie hatten den Mann
mit dem sympathischen Namen Zuckerkandl bis in die Abendstunden
verhört, und als sich noch herausgestellt hatte, dass er am
vorletzten Sonntag den Nachtzug von Verona nach Venedig benutzt
hatte, schien sich alles zu fügen.
Doch es wurde
schließlich halb zehn, bis Tron endlich am Tisch der
Principessa Platz nehmen konnte - gerade noch rechtzeitig zum
Dessert, einem parfait à la
banane. Tron hätte den
Glückwunsch der Principessa lieber unter vier Augen
entgegengenommen. Aber ihm gegenüber, auf der anderen Seite
des Tisches, saß ölig lächelnd ihr Neffe
Julien.
Er war nicht ganz der
strahlende Beau wie auf der Fotografie, aber der Pariser
Schick, den
die Principessa hervorgehoben hatte, war nicht zu übersehen.
Er hatte pomadisierte Haare und trug formelle Abendgarderobe mit
einer Cattleyablüte im Revers - eine Bekleidung, auf der die
Augen der Principessa hin und wieder bewundernd verweilten. So wie
die Blicke des Neffen hin und wieder bewundernd das Dekollete der
Principessa streiften. Eine weniger gefestige Persönlichkeit
als er, dachte Tron, hätte womöglich einen
Eifersuchtsanfall
erlitten.
Der ölige Neffe
war dem Bericht von der Verhaftung mit dem Gesichtsausdruck eines
Mannes gefolgt, der gerne Schauerromane liest - je blutiger, desto
besser. Er sah Tron mit funkelnden Augen an. «Hat er
gestanden?»
Tron hatte den
Eindruck, dass der Neffe es gerne gehört hätte, wenn sie
den Mann ein wenig gefoltert hätten. «Der Bursche hat
nur zugegeben, dass er in der Pensione Seguso war», sagte er.
«Und dass er am vorletzten Sonntag den Zug von Verona nach
Venedig genommen hat.»
Der Kopf des Neffen
fuhr abrupt nach oben. «Sie meinen den
Nachtzug?»
Tron nickte. «Es
hat auch in diesem Zug einen Mord gegeben; so wie es aussieht, den
ersten aus der Serie. Der Mörder hat die Leiche der Frau aus
dem Abteil in die Lagune geworfen. Das Opfer konnte jedoch erst
heute identifiziert werden.»
Der Neffe war bleich
geworden. «Hat der Mörder dem Opfer auch die
...»
«Ja, das hat
er», sagte Tron. «Warum wollen Sie das
wissen?»
«Weil ich auch
mit diesem Zug gekommen bin. Aber fragen Sie mich nicht, ob ich
irgendetwas bemerkt habe. Es hat die ganze Zeit geregnet, und ich
war todmüde.» Der Neffe griff nach seinem Löffel.
Als er sprach, klang seine Stimme belegt. «Hat dieser Mann
noch etwas gesagt?»
Tron schüttelte
den Kopf. «Er hat sonst nur wirres Zeug
geredet.»
Das hatte er in der
Tat. Während des Verhörs hatte der Mann mit hochrotem
Kopf immer wiederholt, dass es ihm nur darum gegangen
wäre, die Sache zu machen.
Was genau die Sache war, die er machen wollte, blieb
unklar.
«Ist der Mann
tatsächlich verrückt?» Die Principessa tauchte den
Löffel in ihr Bananenparfait, was im selben Augenblick auch
der ölige Neffe tat. Ein Gleichklang der Seelen? Tron war
irritiert.
Er nickte.
«Definitiv. Spaur war ganz entzückt. Weniger begeistert
war er über den neuen Artikel in der Gazzetta.»
Wie bereits
befürchtet, hatte die Gazzetta di Venezia auch über den
Mord in der Pensione Seguso berichtet. Der Artikel bestand aus drei
Spalten und deutete zwischen den Zeilen an, dass sich das Vertrauen
der Venezianer in ihre Polizei momentan sehr in Grenzen
hielt.
Der Neffe, der mit den
venezianischen Verhältnissen nicht vertraut war, runzelte die
Stirn. «Wer ist Spaur?»
«Der
Polizeipräsident», sagte Tron. «Mein Vorgesetzter,
der sich wegen dieser Morde große Sorgen macht. Es gibt im
Moment eine Art Wettbewerb zwischen den österreichischen
Polizeipräsidenten», fügte er hinzu. «Da
machen sich allzu viele Verbrechen in unserer Statistik nicht gut.
Und eine schlechte Presse schon gar nicht.»
«Haben Sie mit den
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