Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Leuten von
der Gazzetta
di Venezia gesprochen?»
Tron schüttelte
den Kopf. «Mein Bericht geht in zwei Exemplaren an den
Polizeipräsidenten. Ein Exemplar behält er, das zweite
Exemplar wird an den Stadtkommandanten Toggenburg weitergeleitet.
Und der scheint die Presse informiert zu haben.
Selbstverständlich, ohne uns zu fragen. Wir sind ein
okkupiertes Land, Signor Sorelli.»
«Was dir ja ganz
recht ist», kommentierte die Principessa bissig.
«Die
Principessa», sagte Tron zu dem Neffen, «wünscht
eine Vereinigung mit Piémont. Ich hingegen bin
skeptisch.»
«Weil Sie an die
Situation im Süden denken?»
Wie bitte? Tron nickte
erstaunt. Ein klarer Pluspunkt für den Neffen. Einen Moment
lang hatte Tron den Eindruck, dass Julien die Lage in
Süditalien kommentieren wollte, aber er kam auf das
ursprüngliche Gesprächsthema zurück.
«Dann
wollte», sagte der Neffe, «dieser Toggenburg Sie
offenbar düpieren.»
Tron zuckte mit den
Achseln. «Oder ein Offizier aus seinem
Stab.»
«Vermutlich dein
spezieller Freund Oberst Stumm», bemerkte die
Principessa.
Der Neffe hob
überrascht den Kopf. «Oberst Stumm von
Bordwehr?»
«Ich hatte
kürzlich Ärger mit ihm.» Tron nickte. «Kennen
Sie den Oberst?»
«Kennen ist zu
viel gesagt. Mir fiel dieser merkwürdige Name auf seinem
Gepäck auf.»
Jetzt war Tron
überrascht. «Wo haben Sie ihn gesehen? Etwa im Nachtzug
nach Verona?»
«Wir hatten eine
kurze Begegnung auf dem Bahnhof», bestätigte der Neffe.
«Seine Koffer sind irrtümlicherweise in mein
Coupé gebracht worden. Der Gepäckträger hat die
Abteile verwechselt. Oberst Stumm war dabei, als sein Gepäck
abgeholt wurde, und hat sich bei mir entschuldigt. Übrigens
trug er keine Uniform.» Der Neffe sah Tron an. «Warum
interessieren Sie sich für den Oberst?»
«Weil er mit der
Frau bekannt war, die auf der Gondel ermordet
wurde.»
«Stand er unter
Verdacht?»
Tron schüttelte
den Kopf. «Nein. Aber ich halte ihn für potentiell
gewalttätig. Wir wissen, dass er vor Jahren in Wien eine
Prostituierte misshandelt hat.»
«Was gut zu
seinen zusammengewachsenen Augenbrauen passen würde. Es gibt
äußere Merkmale, an denen man einen deliquente nato erkennen
kann.»
«Und einen
geborenen Verbrecher erkennt man an seinen
Augenbrauen?»
«Auch an der
Form seines Schädels», sagte der Neffe. Er starrte einen
Moment lang auf die Schale mit dem Bananenparfait. Dann fragte er:
«Sind Sie sicher, dass der Oberst nichts mit der Sache zu tun
hat?»
Tron nickte.
«Wir rechnen damit, dass der Mann, den wir am Bahnhof
verhaftet haben, im Laufe des morgigen Tages gestehen wird. Zumal
wir ihm versichert haben, dass er nicht am Galgen enden
wird.»
«Wo
sonst?»
«In einer
Anstalt», sagte Tron. «Wir haben es mit einem
Verrückten zu tun. Juristisch ginge es dann nicht um Mord,
sondern um die Tat eines Unzurechnungsfähigen. Man könnte
sagen, dass die jungen Frauen einem bizarren Unfall zum Opfer
gefallen sind. So als hätte sie ein Zirkuslöwe
zerrissen.»
Der Neffe machte ein
nachdenkliches Gesicht. «Das erinnert mich an einen
Doppelmord in der Rue Morgue, der in einem verschlossenen Zimmer
begangen wurde. Die Polizei kam nicht weiter, bis ein
Privatdetektiv, ein gewisser Monsieur Dupin, schließlich die
Lösung lieferte: Es hat sich auch hier um eine Art Unfall
gehandelt. Der Täter war ein Orang-Utan. Er ist über den
Kamin in das Zimmer eingedrungen.»
«Und warum ist
die Polizei nicht darauf gekommen, sondern nur dieser Monsieur
Dupin?», wollte die Principessa wissen.
«Weil er
scharfsinniger war als sie.» Der Neffe lächelte
herablassend. «Monsieur Dupins Prinzip war: Wenn alles
Denkunmögliche eliminiert wird, bleibt die richtige
Lösung übrig. Und die richtige Lösung war der
Orang-Utan.»
Die Principessa warf
einen bewundernden Blick auf ihren Neffen. Das ergab zwei
Minuspunkte.
Tron stellte seine
Tasse ab und sagte ebenfalls lächelnd: «Das ist ein
ziemlich alter Hut, Signor Sorelli. Ockhams
Rasiermesser.»
Wie erwartet —
und erhofft — besagte die verunsicherte Miene des Neffen,
dass er noch nie von Ockhams Rasiermesser gehört
hatte.
«Von mehreren
Theorien», fuhr Tron flüssig fort, «die den
gleichen Sachverhalt erklären, ist die einfachste vorzuziehen.
Denken Sie an Kopernikus. Wenn man von der einfachen Annahme
ausgeht, dass die Sonne, und nicht die Erde, im Mittelpunkt des
Universums steht, ist die Bewegung der Himmelskörper leicht zu
erklären. Die ptolemäische
Weitere Kostenlose Bücher